Sommergewitter. Erich Loest

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Sommergewitter - Erich Loest

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ein wirklich neues Leben anfangen. Abends Sinalco auf dem Balkon. Oder in Westberlin bleiben als Insulaner, der die Ruhe nicht verlor. Der nun anderen befahl: An jedem ersten Dienstag im Monat melden Sie sich pünktlich um 23 Uhr 15. Die berühmte Zahl fünfzehn. Mehr geschieht nicht bis zum Ernstfall, den erfahren Sie durch das Blinken des Lämpchens ebenfalls um 23 Uhr 15. Jeden Abend nachschauen. Aber Sie merken ja selber, wenn’s kracht.

      Zehn Minuten vor der verabredeten Zeit fühlte er zum Kurfürstendamm vor. Der Mann, den er Belger nennen sollte, bog um die Ecke, war untersetzt mit halber Glatze und trug eine hüftlange graue Jacke, eine die Knöchel freilassende Hose und Sandalen, auf denen er federte. Er schlenderte die Fasanenstraße entlang über zwei Querstraßen hinweg, ohne zur Seite zu schauen und in immer gleichem mäßigen Tempo. Hemsberger folgte ihm und heftete seinen Blick an den ausrasierten Nacken mit einer Narbe, als habe ihn dort ein Granatsplitter erwischt. An einer Kreuzung blieb der Mann stehen, wendete sich nach rechts, strich am ersten Lokal vorbei, las vor dem zweiten die Speisekarte, blickte wie zufällig in Hemsbergers Richtung und trat ein.

      Sich Zeit lassen. Am ersten Lokal die Speisekarte mustern. Hemsberger empfand den Gastraum als wohltuend kühl, er brauchte zehn Sekunden, ehe er sich ans Halbdunkel gewöhnt hatte. In den Nischen hing Reklame aus der Vorkriegszeit neben Fotos von Sport- und Gesangvereinen, Pokale und Urkunden. Auch aufgefächerte Skatkarten unter Glas, nachweisend die berühmten Grand ouverts. Aus den Wänden dünstete der Teer von Millionen Zigaretten und Zigarren, gequarzt seit der Jahrhundertwende, seitdem war hier nicht vorgerichtet worden. Der Wirt nickte wortlos. Im zweiten Raum zündete sich sein Kontaktmann gerade eine Zigarette an. Er hielt Hemsberger die Schachtel hin und schaute fragend hoch. Hemsberger nahm eine Zigarette und sagte: »Guten Tag fünfzehn Mal.«

      Der Wirt trat heran, Potschinski bestellte zwei Cola. Als sie wieder allein waren, sagte Hemsberger: »Womit anfangen. Allgemeine Nervosität. Steckt mich nicht an. Oder nicht sehr.«

      »Quatschen Sie sich ruhig aus.«

      »Möchte ich noch nicht mal. Sondern bloß was fragen. Ich wüßte gerne – mal anders rum, wir haben nie über meinen Schlußpunkt geredet. Das ist wie in alle Ewigkeit. Ich möchte aber unser Geschäft beenden und abhauen. Mir stinkt’s.«

      In der einen Hand hielt der Geheimdienstler die Zigarette, mit der anderen hob er einen Bierdeckel an und ließ ihn fallen, wieder und wieder. Sein Gesicht war faltiger, als Hemsberger es in Erinnerung hatte, unter dem offenen Hemd kräuselte sich graues Haar. Solche Typen kannte er von der Pferderennbahn und aus Wettbüros, Zocker, ehemalige Jockeys. Der Kerl hatte einmal erwähnt, er habe beim Zirkus gearbeitet und sei als Fallschirmjäger auf Kreta dabei gewesen. Sudabucht, die Flak-Hölle. Als Hemsberger nachhakte, Fallschirmjäger damals seien zwanzig gewesen und nicht vierzig, war die Antwort prompt und unwiderlegbar gekommen: Einsatz als Lastenseglerpilot, später Ausbilder in Gardelegen – in der Luftwaffe kannte er sich aus. »Zwei Jahre sind für meine Nerven eine unendliche Zeit. Es sind sogar fast zweieinhalb.«

      »Monatlich vier Sekunden Arbeit.« Das klang verärgert. »Dafür fünfhundert Westpiepen auf die hohe Kante. So leicht möchte ich’s auch mal haben, Herr Postberg.«

      »Das ist nicht der Punkt.«

      »Was dann?«

      »Das Risiko.«

      »Nun hörn Sie mal gut zu, Postberg. Das alles haben Sie von Anfang an gewußt. Und solange Sie nicht wirklich zu arbeiten beginnen, ist das Risiko nicht größer als das, in dem Colaglas hier zu ersaufen.« Ein Mann ging vorbei zur Toilette, Potschinski verstummte.

      Kein Berliner, vermutete Hemsberger, vielleicht aus dem Ruhrgebiet, Dortmund, Duisburg. Einer seiner Bordfunker stammte von dort. »Ich will ja nicht sofort aufhörn.«

      »Da würden allerhand Leute sehr, aber schon sehr böse werden. Ohne Ersatzmann geht sowieso nichts. Und den besorgen nicht Sie. Wie sieht’s sonst aus?«

      »Sie lesen ja Zeitung. In Halle haben sie einen Taxifahrer zu achtzehn Monaten verurteilt, weil er einem Fahrgast erzählt hat, Ulbricht würde wie einer reden, dem sie die Eier abgeschnitten haben.«

      »Unsere Hauptsache?«

      »Keine auffälligen Bewegungen um die Kasernen. Keine stärkeren Transporte durch den Bahnhof. Nichts, was ich wirklich melden sollte. Wollen Sie wissen, was alles bei Wittenberg rumsteht?«

      »Das melden andere.« Der Mann kam von der Toilette zurück; als seine Schritte nicht mehr zu hören waren, fuhr Potschinski fort, er würde natürlich Herrn Postbergs beschissenen Wunsch weitermelden, wundere sich allerdings erheblich. Wundere sich geradezu irre. So was von irre! Ein wasserdichter Job, vom Sofa aus zu erledigen, er hätte Herrn Postberg mutiger eingeschätzt. Plötzlich lächelte er und zeigte eine breite Zahnlücke im Oberkiefer. »Sie sind damals zu uns gekommen und nicht wir zu Ihnen. Ich hab Ihnen das Wunderkästchen gebracht. Und wir haben unseren schönen Vertrag.«

      »Mündlich.«

      »Von Ehrenmann zu Ehrenmann. Noch ’ne Cola? Wir wollen hier keine Wurzeln schlagen. Bißchen Handgeld kann ich Ihnen geben, hundert, der große Batzen bleibt in der Sparbüchse. Ihre Lebensversicherung. Na, besser fünfzig.« Er hätte sowieso nicht das letzte Wort und könnte nichts versprechen. Unter einem halben Jahr ginge mit dem Ausstieg nichts, absolut keine Chance. Wenn sie den geschätzten, lieben Herrn Postberg abschalten wollten, käme ein Spruch. Oder besser ein Kurier. »Jemand wird sagen: ›Ich wollte Sie schon fünfzehn Mal besuchen.‹ Und Sie antworten: ›Sie sind ja zäh wie fünfzehn alte Hirsche.‹«

      Hemsberger wollte seinen Führungsmann keinesfalls reizen, nicht er saß am längeren Hebel. »Bitte glauben Sie nicht, daß ich mir diesen Schritt nicht hundertmal überlegt hätte. Aber in Bitterfeld spielen sie verrückt, als ob ihnen das Wasser bis zum Hals stünde. Steht es ja wahrscheinlich auch. Einmal sollen wir nach der Anzahl von Stückgütern bezahlt werden, dann nach Tonnenkilometern im Kollektiv. Immer neue Einfälle, um unser Gehalt zu drücken. Mit Normen geht es bei der Eisenbahn schlecht, soll aber auf Biegen und Brechen. Diese ewigen Selbstverpflichtungen – ich dreh noch durch.«

      »Sie drehen überhaupt nicht durch. Sie schlucken alles wie bisher. Vielleicht machen Sie mal ’nen hübschen Verbesserungsvorschlag. Am Schwarzen Brett: Zu Ehren des großen Stalin …« Die Schultern wippten wie in mühsam unterdrückter Heiterkeit. »Was erzählen Sie Ihrem Bruder?«

      »Ich bettle ihn um was zu fressen an wie jedes Mal.«

      Der Wirt schaltete das Radio ein: »Lieber Gott, laß die Sonne wieder scheinen.« Die kleine Cornelia nebst Sängerknaben. Potschinski fragte, ob Herr Postberg vielleicht doch etwas essen wolle oder was Besseres trinken als Cola. Viel Zeit bleibe allerdings nicht mehr. Hier stünde doch allerhand Leckeres auf der Speisekarte, nicht solcher Mampf wie in Bitterfeld. Zum Beispiel Dorschleber, na?

      In Hemsberger stieg Wut hoch. »Ihr wißt gar nicht, was ihr für Schwein habt. Genießt das Leben und dirigiert vom Schreibtisch aus.«

      »Eines Tages«, es klang gelangweilt, »fliegen Sie nach Kanada oder Texas und kaufen sich von Ihrem Batzen Geld ’ne Farm oder ’ne Tankstelle. Unter geändertem Namen, wenn Sie das wünschen. Und das nicht eines fernen Tages, sondern nächstes Jahr. Das alte Grabenschwein Belger hat vorher das Schatzkästlein bei Ihnen abgeholt und zu Ihrem Nachfolger gebracht, der die Hosen nicht so voll hat wie Sie. Dabei oder beim nächsten Mal schnappen sie mich. Oder die Stasi organisiert einen hübschen perfiden Menschenraub, Gift im Kaffee und in der Zigarette, während ich eine bescheuerte Nachricht von der Verlegung einer Garde-Kompanie der siegreichen Fußlappenarmee von Thüringen in die kalte Heimat entgegennehme. Oder ’ne scharfe Biene lockt mich in die Federn, und ihr Lude

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