EMP. Andrea Ross
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Ich wurde mit so großem Hallo begrüßt, als hätten mich die anwesenden Mitarbeiter der Stadtverwaltung nicht erst gestern gesehen. Man freute sich offensichtlich über jeden Kollegen, der es überhaupt bis zum Rathaus schaffte.
»Bisschen spät, hä?«, neckte mich Alexandra, meine langjährige Kollegin, mit der ich auch außerdienstlich befreundet bin. »Aber keine Angst, das merkt keiner – die Stempeluhr funktioniert natürlich auch nicht!«, grinste sie verschmitzt.
Üblicherweise sitzen hier unten in der Lobby einzelne Bürger, die auf ihre antragstellenden Angehörigen warten. Mütter mit sperrigen Kinderwagen, oder am monatlichen Auszahl-Tag diejenigen Bezieher von Hartz IV oder Grundsicherung, welche über kein Bankkonto verfügen und die Stütze in bar abholen.
Heute jedoch waren alle Polsterstühle besetzt, und der überzählige Rest der Belegschaft hatte sich im Schneidersitz auf dem Fußboden niedergelassen. Schon wieder fühlte ich mich optisch unwillkürlich an eine Art Winter-Biwak erinnert, weil alle Kollegen so dick eingepackt waren. Fast schien es, als müsse gleich jemand seine Gitarre hervorholen, um die üblichen öden Zeltlager-Songs zu klimpern.
Ich setzte mich neben Alexandra nieder, ließ meinen Blick über die Anwesenden schweifen und fragte: »Sag mal, kommt mir das nur so vor, oder ist hier kaum einer von den Chefs anwesend?«
Alex nickte bestätigend und meinte: »Na ja, das kommt davon, dass die viel mehr verdienen als wir Fußvolk. Die wohnen nicht in der Innenstadt, sondern haben alle außerhalb gebaut. Wo sie jetzt schön festsitzen, weil ihre dicken Autos genauso wenig funktionieren wie unsere alten Rostlauben!«
Wir mussten beide herzhaft lachen. Wenn ich mir den einen oder anderen fetten Herrn im Anzug vorstellte, wie er ratlos seine Glatze kratzend vor dem nagelneuen 7er BMW stand, konnte ich die Sache vorübergehend tatsächlich sogar mit Humor betrachten. Aber ich wurde trotzdem gleich wieder ernst; schließlich war ich unter anderem hierher geradelt, um endlich zu erfahren, was diesen Ausnahmezustand verursacht haben könnte.
Mit etwas erhobener Stimme fragte ich die um mich herum sitzenden Kollegen, ob man denn schon herausgefunden oder wenigstens eine brauchbare Theorie habe, wieso in dieser Stadt seit den frühen Morgenstunden alles zum Erliegen gekommen sei. Die einen schüttelten den Kopf, die anderen nickten eifrig, bevor sie sich wieder ihren jeweiligen Gesprächspartnern widmeten.
»Wie jetzt?«, fragte ich wegen dieser widersprüchlichen Auskünfte Alexandra. Die holte tief Luft und erzählte, dass seit Stunden die abenteuerlichsten Spekulationen durchdacht und widerlegt worden seien. Von Terroranschlag bis Angriff aus dem Weltall sei alles erörtert und auch wieder verworfen worden, bis nur noch eine einzige logische Erklärung übrig geblieben sei: diejenige, dass sich ein EMP ereignet haben könnte, was im Übrigen die Abkürzung für »Electromagnetic Pulse« sei.
»Ich weiß ziemlich genau, was das ist!«, unterbrach ich ungeduldig ihre Ausführungen. »Schließlich habe ich auch regelmäßig die Nachrichten verfolgt. Seit Monaten befürchten die Experten schon Stromausfälle wegen der stark erhöhten SonnenfleckenAktivität, so wie damals im März 1989 in Quebec, als es unter anderem einen Mega-Blackout gab. Aber haben die Wissenschaftler nicht gesagt, das Schlimmste sei vorüber, die Intensität der Sonnenstürme nehme bereits wieder ab?«
Alexandra nickte nachdenklich. »Stimmt! Aber dann haben sie sich eben getäuscht, denke ich mal. Das Beste kommt halt oft erst zum Schluss, nicht wahr? Und dieses Mal hat es nicht Quebec erwischt, sondern Oberfranken!«
Zu meiner Linken saß Peter, den ich schon seit einer kleinen Ewigkeit kannte. Der quirlige Beamte hatte dereinst im selben Jahr bei der Stadtverwaltung seinen Dienst angetreten wie ich.
»Was du sagst, das könnte schon richtig sein!«, warf er in Alexandras Richtung ein. »Bloß wissen wir nicht, ob das Phänomen wirklich örtlich begrenzt ist! Und die Misere ist heute mit Sicherheit weitaus schlimmer als damals in Quebec, wo außer diesem größeren Stromausfall und ein paar sonstigen Störungen nichts Schlimmes passiert ist.
Denk doch mal nach! 1989 war noch nicht jedes Auto und nicht jedes Elektrogerät mit empfindlichen Computer-Chips ausgerüstet, da konnte gar nicht so viel kaputt gehen wie heutzutage! Oder was glaubt ihr, weshalb aktuell so gut wie gar nichts mehr funktioniert? Alles durchgeschmort, das sage ich euch schon jetzt!«
Diese frustrierende Annahme war tatsächlich berechtigt. Wir analysierten hier nüchtern katastrophale naturwissenschaftliche Vorgänge und waren uns zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht darüber im Klaren, dass wir im Grunde von einem möglichen Ende der Zivilisation sprachen, so wie wir sie bis zu diesem Tag kannten. Erst später, als ich längst wieder alleine in meiner ausgekühlten Wohnung saß, wurde mir das in Ansätzen bewusst. Aber zurück zu unserem außergewöhnlichen Lobby-Sit-In.
Alexandra ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, behielt ihren kühlen Kopf. »Ist ja alles gut und schön, Leute! Aber bislang sind das alles nicht mehr und nicht weniger als blanke Vermutungen, richtig?«
Peter nickte. »Richtig! Doch bald wissen wir mehr. Unser Hausmeister ist nämlich gerade auf dem Weg zur Garage eines Freundes, wo er seinen geliebten 1968er Mustang eingestellt hat. Falls der problemlos anspringen sollte, dürfte sofort alles glasklar sein!«
»Weil da drin wegen des frühen Baujahrs noch kein einziger Chip eingebaut ist, oder?«, dachte ich laut nach.
»Ganz genau!«, bestätigte Peter und warf nervös einen Blick aus der Eingangs-Glastür, ob dort nicht vielleicht schon eine chromglänzende Stoßstange zu sehen wäre.
Wer immer diesen Text eines Tages eventuell lesen mag – wissen Sie was? Ich unterbreche jetzt doch und gehe erst einmal ins Bett. Mir ist kalt, meine Füße fühlen sich wie erstarrte Eisklumpen an. Die rechte Hand samt zugehörigem Gelenk schmerzt ziemlich, außerdem erkenne ich die Buchstaben nur noch verschwommen; es sieht für meine überanstrengten Augen aus, als würden sie sich wie eine Ameisenkolonne über das Papier bewegen. Gute Nacht, bis morgen!
Falls es ein »morgen« überhaupt noch geben wird. In der absoluten Dunkelheit beschleichen einen die abstrusesten Ängste, das dürfen Sie mir ruhig glauben.
Schönen Valentinstag, Gabi!
*
Ich bin heute schon wieder erst aufgewacht, als es draußen längst hell geworden war. Im Grunde macht das nichts aus, weil man ja sowieso nicht früher nach draußen gehen könnte. Wenn man die Hand vor Augen nicht sieht, ist es viel zu gefährlich, auch nur einen Fuß vor die Wohnungstür zu setzen. Dennoch besitze ich eingeschliffene Gewohnheiten und ein fast übermächtiges Pflichtgefühl, welches mir wider alle Logik ein schlechtes Gewissen impliziert.
Obwohl ich unter normalen Umständen also schon seit bestimmt zwei Stunden ordentlich im Amt an meinem Arbeitsplatz sitzen müsste, befinde ich mich zu Hause bei 5 Grad plus am Schreibtisch, um wenigstens den gestrigen Tag fertig zu dokumentieren. Mit einer Decke um die Schultern und fingerlosen Handschuhen, die meinen klammen Händen wenigstens ein wenig Wärme spenden sollen.
Die eisige Raumtemperatur desillusionierte mich gleich nach dem Aufwachen gründlich, hatte ich mir doch vor dem Einschlafen noch ganz fest gewünscht, dass heute alles wieder seinen normalen Gang gehen solle. Doch das wird womöglich nie mehr der Fall sein.
Nach wie vor gibt es weder Strom noch Heizung, in allen Straßen herrscht gespenstische Stille. Wir wurden von einem Augenblick zum anderen zurück in die Steinzeit katapultiert, und noch immer weiß niemand in meiner Umgebung sicher zu sagen, wie dieses katastrophale Ereignis überhaupt seinen Lauf nehmen konnte. Innerhalb weniger Sekunden