Die Göttinnen. Heinrich Mann

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Die Göttinnen - Heinrich Mann

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Zunahme des Räuberwesens. Die Malviventi waren in größerer Anzahl als sonst von den Bergen gestiegen. Den Italienern wurden die Ernten angezündet und die Ölbäume gefallt. Wenn ihre Weinbeeren noch klein und hart waren, fanden sie eines Tages alle Reben zerschnitten. Im Winter 72 brachen zwei Regimenter Landesschützen von Zara nach Süden auf: in den Bocche, zwischen den Klippen und auf den Felseninseln kämpften die aufständischen Slaven für die Freiheit, die eine unbekannte Frau ihnen versprach, eine ferne, nie erblickte Königin, von der sie träumten, über die sie betrunken in den Wirtshäusern einander vorlogen, und an die sie ihre klagenden Gebete richteten. Auf der Straße fühlte die Herzogin, wie gespannte, ernst gewordene Blicke zu ihr in den Wagen drangen. Unter ihren Fenstern vernahm sie häufig schlürfende Tritte. Es waren die Bundschuhe von acht oder zehn mageren, braunen Kerlen, die die Hände in den Ziegenfellhosen, scheu und gebannt an ihren Säulen hinaufstarrten.

      Eines Tages verkündete Pavic mit feierlicher Miene die Ankunft des Marchese di San Bacco. Einen Augenblick klopfte ihr Herz stärker; denn wo immer in der Welt der alte Sturmvogel erschien, da drohte ein Aufstand, eine Umwälzung, ein politisches Abenteuer. Er hatte seine Begeisterung und seine Faust den Griechen geliehen, den Polen und den Unabhängigkeitskämpfern Südamerikas, der französischen Kommune, Jungrussland und der italienischen Einheit. "Freiheit" war das Stichwort, auf das er losbrach, so oft es erscholl. Er hatte es als Knabe vernommen und war der Familie entlaufen, für das junge Italien eingekerkert und über Gefängnismauern nach Amerika entkommen, zu Garibaldi, seinem Helden. Er hatte als Korsar die kaiserlich brasilianischen Schiffe geplündert und als Diktator über exotische Republiken geherrscht, er hatte von raffinierten Barbaren lächerliche Torturen erduldet, in den Lagunen von Riesenflüssen ein vogelfreies Brigantenleben geführt, Kühe geraubt und Reiche herausgefordert: alles im Namen der Freiheit. In Italien, wohin er seinem Meister folgte, bewahrte noch jeder Fußbreit Landes die Spuren des Ringenden. Um sie für den Samen der Freiheit zu pflügen, hatte er jede Scholle seiner Heimaterde mit seinem Schwerte umgewendet.

      Jetzt, mit fünfzig Jahren, focht er in der Kammer zu Rom, hitzig und gebieterisch, für den Willen des roten Generals. Er war schlank und spannkräftig, mit großen türkisblauen Augen. Das rote Kinnbärtchen tanzte bei allen Grimassen der ungeduldigen Lippen, das Haar wirbelte schlohweiß über der schmalen Stirn in die Höhe.

      Er lud sich bei der Herzogin zu Gaste; die Hotels passten ihm nicht, sagte er. Er war sehr arm, denn er hatte die Freiheit des Menschengeschlechtes ebenso gut mit seinem Vermögen bezahlt wie mit seiner Jugend.

      Sofort begann er, Pavic auf seinen Agitationsfahrten über Land zu begleiten. Er gebrauchte größere Worte als der Tribun, schrie noch lauter, schäumte, warf die Glieder, reizte zum Aufruhr, veranlagte Prügeleien und wanderte, nach einem Widerstande auf Tod und Leben, zwischen zwei Dorfpolizisten auf irgendeinen Gendarmerieposten, wo er mit verächtlich gekrümmten Lippen seinen Namen hinwarf: Marquis von San Bacco, Oberst der italienischen Armee, Commendatore des Ordens der Krone von Italien, Abgeordneter zum Parlament in Rom. Ein Telegramm aus Zara befreite ihn. Er kehrte heim und stieß, vor der Herzogin rastlos hin und her schreitend, mit hoher gequetschter Kommandostimme zerhackte Reden aus:

      "Es lebe das freie Wort! … Worte sollen locker sitzen wie Schwerter! … Feige sind stumm! … Tyrannen und verbundene Mauler!"

      Allmählich beruhigte er sich, und immer auf den Beinen, mit dem Rücken am Kamin, erzählte er friedlich und mit maßvollen Gesten die Eroberung einer großen brasilianischen Sumaca. Es verstand sich, dass er gegen die Passagiere und besonders gegen die Frauen die ritterlichste Haltung beobachtet hatte. Unglücklicherweise hatte man ihn festgehalten, als er in der Stadt den erbeuteten Kaffee verkaufen wollte. Er wurde halbnackt vor den Gouverneur geführt. "Ich spie dem Elenden ins Gesicht, und er ließ mich mit den Händen an ein schwebendes Seil binden, woran ich zwei Stunden lang hängen blieb."

      Nach drei Wochen reiste er ab, und die Herzogin verlor ihn ungern.

      Pavic unterrichtete sie im Morlakischen, er las ihr Lieder von bunten Hirschkälbern und von der goldhaarigen Sosa, von Haiduken, von Berggeistern auf umbrandeten Klippen und von Müttern, weinend unter Orangenbäumen. Diese unklare, weich schwärmende Poesie, die sie halb verstand, und in die er sie einwickelte Tag für Tag, betäubte ihre ruhige Vernunft; die slawischen Wörter, von seinem Organ zärtlich gewiegt und verführerisch dargeboten, erregten und ermatteten sie. Sie fühlte sich wie im warmen Bade, wo eine Frau unter erhitzten Locken aus müden Augen den Perlen zublinzelt, die im Wasser aufsteigen. Pavic ward immer feuriger, je stiller er sie sah. Er pries stürmisch sein Voll und starrte entzückten Blicks in das schöne Gesicht der Dame auf den Kissen neben ihm. Er küsste ihre Hand, er berührte ihr Kleid, ihr Haar sogar, und es war immer noch, als liebkoste er sein Volk.

      Sie sah ihn in der Ehrlichkeit seines Herzens erröten, zittern, verstummen. Dabei gedachte sie der Geständnisse, die sie in Wien und in Paris empfangen hatte, all des Flehens und Drohens, das in ihrem Schoß erstickt und von ihrem Panzer abgeprallt war, — und sie fand Pavic weniger lächerlich als die andern. "Was konnte ich jenen geben? Sie wussten es selbst nicht, die Narren. Dieser hier verlangt etwas von mir: ich soll ihm helfen seine Feinde zu besiegen."

      Anfangs brachte er seinen Knaben mit. Das kränkliche, unschöne Wesen saß, von der Herzogin niemals beachtet, in einem Winkel. Eines Tages kam Pavic ohne das Kind.

      Im Vorfrühling, an einem Kirchenfeste, fuhr sie mit ihm nach Benkowaz. Vom Meere her brauste die bittere, aufstachelnde Luft über baumlose Steinfelder. Goldene Lichter warfen sich aus jagenden Wolken in das erwartungsvolle Land, jäh entzündet und gleich wieder erloschen. Im Dorfe bewegte sich ihr Gefährt mühsam über vorspringende Felskanten. Die kotigen Höfe lagen verödet zwischen ihren mit Dornen bepflanzten Mauern.

      Die Bauern warteten beim Wirtshause. Pavic sprang sofort auf einen Tisch, sie drängten sich um ihn, bunt und faul glotzend.

      Pavic redete. Nach der Stille seiner ersten Sätze schlug ganz vorn sich einer klatschend aufs Knie. Hinten brach ein erfreutes Feixen los. Einige Morlaken ließen den frostig zusammengerafften Mantel im Winde flattern und griffen mit den Händen durch die Luft. Kroaten mit Gemüsekarren blieben neugierig stehen. Es traten mit feindlichen Mienen zwei Sicherheitswachen herzu, rot angezogene Kerle, ganz mit Silbertalern behangen, und stellten die Gewehre hart auf den Boden. Die Herzogin blickte hinter der Gardine hervor aus dem geöffneten Wagenfenster.

      Pavic redete. Ein Esel riss sich los, stieß einige Leute um und rannte gegen den Tisch des Tribunen. Pavic verglich ihn, ohne sich zu besinnen, mit allen seinen Widersachern. "Steht fest wie ich!" Er drohte und fluchte mit gesträubtem Bart und gerungenen Fingern, er segnete und verhieß mit einem Angesicht, von dem beseligendes Licht troff. Ein unsicheres Gemurmel ging durch die Hörer, die starren Augen fingen zu glänzen an. Zerlumpte Schafhirten gaben ungeformte Laute von sich. Drei Viehhändler in geblümten Turbanen rasselten mit Pistolen und Dolchen. Pavic senkte sich, mit wild ausgreifenden Armen, so tief nach vorn ins Leere, als wolle er über die Versammlung hinwegfliegen. Gleich darauf schwebte er, leicht und federnd, am jenseitigen Rande des Tisches. Sein lechzender Blick und alle seine Glieder schmiegten sich um das bezwungene Volk: jeder einzelne fühlte mit angehaltenem Atem seine Umschlingung. Wohin er sich wendete, dahin taumelten die weich gewordenen, willenlosen Leiber all dieser Geschöpfe. Sie lächelten weinerlich.

      Pavic redete. Er stand in einem Qualm von Seelen. Die Sicherheitswachen hielten die Gewehre nur noch in lässigen Händen, sie hingen mit entwaffneten, dümmlichen Mienen an des Tribunen Atemzügen. Die Dynastie Koburg hatte zwei Stützen weniger. Plötzlich breitete er die Arme aus, den Kopf im Nacken. Sein breiter Bart stand rot besonnt, keilförmig in die Luft. Die Augen sanken ein unter den gequälten Lidern und erloschen, in einem letzten Krampf zuckten die grauen Lippen. Er war Christus. Weiber schlugen das Kreuz, packten sich bei der Brust und heulten lange Klagetöne. Verwünschungen und Beschwörungen grollten tief. Die Herzogin sah ihm zu wie einem Spiel, einem Aufwallen

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