Die Göttinnen. Heinrich Mann
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Читать онлайн книгу Die Göttinnen - Heinrich Mann страница 16
Unversehens war er am Wagenschlag. Er sprang hinein, sie fuhren im Galopp davon. Der wütende Aufschrei der Menge vergellte hinter ihnen. Sie ließen die Wagendecke herab und hielten die Gesichter dem Wind und der Sonne hin. Die Herzogin schwieg mit ernsten Augen, Pavic schnaufte. Vor und hinter ihnen rollte durch das Steinland der blendende Fluss der Landstraße. Von einer ihrer Erhöhungen sahen sie fern einen blinkenden Streifen: das Meer.
Da sprang aus einem Schutthaufen etwas heraus, etwas Zerlumptes, Tolles, wovor die Pferde scheuten. Es war ein Weib in grauen Zottellocken, sie schwenkte mit der Hand einen langen Haarschopf, daran flog im Kreise ein Totenkopf. Sie kreischte etwas Unverständliches, immer dasselbe, und klammerte sich an die Wagenräder. Pavic rief hinaus.
"Bist du schon wieder da! Ich kann dir nicht helfen, so geh' doch und werde vernünftig!"
Die Herzogin ließ halten.
"Was schreit sie? Heißt es nicht ,Gerechtigkeit'?" Die Alte war mit einem Satze bei ihr, sie hob ihr den Schädel dicht vors Gesicht.
"Hoheit, es ist eine Närrin!" murmelte Pavic. Das Weib zeterte:
"Gerechtigkeit! Sieh, das ist er, das ist Lazika, mein Söhnchen. Sie haben ihn ermordet und leben noch! Mütterchen, ich liebe dich, hilf mir doch zu meiner Rache!"
"Schweige endlich!" befahl Pavic. "Es ist dreißig Jahre her, und sie haben Zwangsarbeit getan."
"Aber sie leben!" heulte die Mutter. "Dürfen sie leben, und er ist gemordet! Gerechtigkeit!"
Die Herzogin starrte den gebleichten Kopf an. Pavic bat:
"Hoheit, gestatten Sie mir, den Auftritt zu beenden."
Er winkte, die Pferde zogen an. Das Kleid der Alten verfing sich in den Speichen, sie fiel um. Ein scheußliches Knirschen entstand: das Rad war über den Schädel gegangen. Sie waren schon weit; dahinten wälzte sich mit Wimmern im weißen Staube ein Haufen Lumpen über den Splittern vom Haupte des Sohnes. Die Herzogin lenkte erblasste den Blick weg.
"Dreißig Jahre," sagte Pavic, "und noch immer rachedürstend! Wir sind Christen, wir verlangen nach Gnade."
Die Herzogin erwiderte:
"Nicht Gnade. Ich bin für Gerechtigkeit."
Sie sprach nichts weiter. Sie versuchte darüber zu lächeln, wie heute alles so tragisch erscheinen wollte, doch beängstigte sie diese Stunde, die schwanger aussah von Fremdartigem. Sie mochte sich nicht umsehen nach dem Manne neben ihr.
Pavic dachte zurück an den armen Studenten, der zu Padua scheu und gedrückt, als Angehöriger der unterworfenen Rasse umhergegangen war. "Jetzt halte ich euch!" so frohlockte er. "Denn für mich habe ich die Herzogin von Assy." Er dachte an den wunden Ehrgeiz des kleinen Advokaten, dem man zuweilen einige kühne Worte erlaubte. Dann zogen die Gewalten das Seil an; er hungerte, er saß im Kerker, er hörte seine Drohungen verlachen. Heute lag das Atlasfutter seines schwarzen Havelocks über einem in Wien gefertigten Salonrock. Wo er vorbeikam, ward man tiefernst, denn er lehnte im Wagen der Herzogin von Assy. Was war in diesem Augenblick noch unmöglich? Ah! schon manche Frauen, auch schöne, auch reiche, waren, von seiner Rede im Blute aufgepeitscht, zu ihm geschlichen, bettelnd um das Almosen einer Umarmung. Es ward ihm plötzlich sehr heiß in den Augen, er meinte die Besinnung zu verlieren und sprach es sich zum ersten Male aus, er begehre die Herzogin von Assy.
Den ganzen Weg entlang ruhte Pavic im Gefühl seiner seltenen, romantischen Persönlichkeit. Er bebte und schmolz darin.
Bei ihrer Ankunft gingen sie sogleich zu Tische. Nach der geleisteten schweren Lungen- und Muskelarbeit aß und trank der Volkstribun stark. Die Herzogin sah in die Kerzen. Später, in ihrem Zimmer, kam er, satt und sanguinisch, auf den Triumph des Tages zurück. Er wiederholte ihr einzelne Glanzstellen, und die Huldigungen, die ihnen gefolgt waren, rauschten ihr wieder im Ohr. Sie sah ihn aufs neue, ragend groß in furchtbarer Stellung von jagenden Wolken abgehoben, ein Held, gegen den sie keinen Einwand wusste, ein Held, staunenswert und übermächtig. Nun jubelte und befahl er zu ihren Füßen: seine stolzen Freiheitsrufe stiegen zu ihr herauf aus seinen feuchten, roten, verlangenden Lippen.
Und endlich, zwischen zwei Liebeserklärungen an sein Volk, bemächtigte er sich ihrer. Das Sofa, auf dem es geschah, trug mitten über seiner Lehne eine große goldene Herzogskrone. In den Sekunden seiner Seligkeit hafteten Pavic' Gedanken unverwandt an dieser Herzogskrone.
Gleich darauf packte ihn namenloses Staunen über das, was er gewagt hatte. Er stammelte:
"Dank, Hoheit, Dank, Violante!"
Und sich selbst rührend, immer inniger:
"Dank, Dank, Violante, dass du das für mich tatest! Herrliche, gütige Violante!"
Aber ihr Blick floh, von blauen Schatten umzogen, teilnahmslos an ihm vorbei. Ihr Haar war in Unordnung geraten; es hing in starren, dunklen Wellen um das erschreckend bleiche Gesicht. Sie stützte sich mit hart gestreckten Armen auf den Polsterrand. Ihre spitzen Finger zerrissen den gewirkten Stoff. Pavic wand sich in Angst und Reue: "Was habe ich getan!" schrie er sich selbst zu. "Ich bin nur ein Vieh! Jetzt ist alles verloren!" Er verdoppelte seine Anstrengungen:
"Verzeih' mir, Violante, verzeih'! Ich bin ja nicht schuldig, es ist das Schicksal … Jawohl, das Schicksal, das mich dir zu Füßen warf. Ich soll dir dienen … Wie will ich dir dienen! Violante! Ich will den Staub von deinem Saume küssen und sterbend den Kopf unter deine Absätze legen, Violante!"
Er rang, berauscht von den eigenen Worten, um einen ihrer Blicke. Sie strich sich, nach langen Minuten, mit zwei Fingern über die Stirn und sagte:
"Lassen Sie mich, ich möchte allein sein."
"Du verzeihst mir nicht? O Violante, sei gnädig!"
Sie zuckte die Achseln. Er flehte mit Tränen in der Stimme:
"Nur ein Wort, dass du mich nicht verdammst! Violante! Du verdammst mich nicht?"
"Nein, nein."
Sie wendete, unfähig den Auftritt länger auszuhalten, den Hals hin und her.
"Gehen Sie jetzt."
Er ging endlich, mit schwerem Tritt, weichen Gliedern, aufgelöst in Gefühl und immerfort murmelnd:
"Dank … Verzeih' … Verzeih' … Dank."
Sie begab sich sogleich in ihr Schlafzimmer. Sie schickte die Kammerfrau hinaus und begann selbst sich zu entkleiden. Nach dem Erlebten war jede Berührung mit einer menschlichen Haut ihr widerlich. Aber ihre Hände waren schlaff; sie verlor sich immer wieder in Gedanken. Ihre Verwunderung war so mächtig wie seine, doch ganz unvermischt mit Genugtuung.
Also das war alles? Das war alles, was sie hatte erfahren sollen? "Ich wollte lieber, ich hätte es nicht erfahren … Übrigens ist es zum Lachen." Sie wollte den Mund verziehen, aber in die Kehle stieg ihr eine Übelkeit. Dann fiel ihr ein, dass Pavic sie immerfort Violante genannt hatte. Wie kam er dazu? Bildete er sich auf das Geschehene etwas ein? Solch' ein untergeordneter Vorgang, gab er denn ein Recht zu Zärtlichkeiten der Rede und zu seelischem Nahekommen?
Sie zerrte an ihren widerspenstigen