Wolken über Spanien. Kate O'Brien
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Wolken über Spanien - Kate O'Brien страница 5
Kurz und gut, liebe Leser – aber werden Sie mir diese altmodische Anrede gestatten? Eine Freundin sagte mir einmal, als sie das Werk eines bedeutenden und unterkühlten Essayisten auseinandernahm, dass »größere Autoren als Alice Meynell11 sie mit ›liebe Leserin‹ angeredet hätten«, also gehe ich ganz bescheiden das Risiko ein, zu diesen gezählt zu werden. Liebe Leser, ich konfrontiere Sie direkt mit der ersten Person Singular. Ich werde Sie mitnehmen auf meine eigene Reise und in direkter Rede von allem erzählen, woran ich mich erinnere und was ich gern wiedersehen möchte. Ich glaube, so ist es am besten.
Meine Reise wird allerdings ein Patchwork aus vielen Reisen sein und ohne überflüssigen chronologischen Bezug. Die Route wird sich aus vielen Routen zusammensetzen; Jahreszeiten und Städte werden nach meiner Erinnerung folgen, ziemlich sicher war es in Wirklichkeit nicht so; Begleiterinnen oder zufällige Reisebekanntschaften werden in ungenauer Reihenfolge auftreten, sich einschalten, verschwinden und wiederkehren, ganz ohne Absicherung durch all die nützlichen Tagebücher, die ich nie führe. Ihre Rollen, an den entsprechenden Orten, werden so getreu sein, wie die Erinnerung sie gestalten kann – so lange niemand nach dem Datum fragt.
Ich befinde mich also in Santander, und sagen wir einfach, dass es sich um eine Zeit handelt, die mehr als zwei Jahre zurückliegt und weniger als drei. Und während ich im üblichen Café vor dem Regen Schutz suche und in die Hände klatsche, um Eduardo auf mich aufmerksam zu machen, höre ich neben mir aufgeregtes englisches Gerede und stelle bestürzt fest, dass die Schornsteine, die sich draußen im Hafen schwach abzeichnen, die der »Cordillera« oder der »Reina del Pacífico« sein müssen, und dass soeben eine neue Ladung von Urlaubern, knapp bei Kasse und ahnungslos, auf den klatschnassen Paseo de Pereda gekippt wurde – Urlauber, die ganz aus dem Häuschen sind, jetzt endlich in Spanien zu sein – »in Spanien, meine Liebe!« – und dreizehn Sommertage vor sich zu haben.
Mir wird schwer ums Herz. Denn mir scheint, dass sie getäuscht werden, und Spanien nicht minder. Es verhält sich nämlich folgendermaßen: Die Leute, die in der Touristenklasse von Southampton oder Dover zu einem der nähergelegenen spanischen Häfen aufbrechen, sind hauptsächlich hart arbeitende Lohnempfänger, denen die jährliche vierzehntägige Freiheit sehr kostbar ist, und die alle eher wenig Reiseerfahrung haben, da ihnen seit der Schulzeit nur vierzehn Tage pro Jahr fürs Reisen zur Verfügung stehen. Mit dem zunehmenden Tourismus sind sie bemerkenswert unternehmungslustig geworden – dafür, dass sie so wenig Geld und Zeit haben, können sie erstaunlich weit wegfahren. Und in diesem Jahr ist Spanien dran. Man kann die Gespräche förmlich hören, in Ein-Zimmer-Wohnungen und Bungalows, in den Reiseagenturen. »Die Peseta steht dies Jahr so günstig, und die Schiffe sind fantastisch. Hat mir Mabel gesagt. Pro Strecke etwa sechsunddreißig Stunden – genau das Richtige für dich. Und Spanien! Komplett was anderes. Der Arzt sagt, du musst einmal alles hinter dir lassen, Liebling, die Kinder und alles. Sie werden wunschlos glücklich sein in Broadstairs, bei Mutter. Du weißt, wie sehr sie es liebt, sie mal für sich zu haben. Spanien! Was könnte aufregender sein! Bestimmt werden wir uns einen schönen Sonnenbrand holen. Oh, es ist also nicht ganz so heiß im Norden? Die Hotels sind in Ordnung, nehme ich doch an? Das hier scheint mir sehr günstig zu sein. Oh, ich denke, das ist eine fabelhafte Idee, George. Wo liegt Toledo? Sollen wir uns Toledo ansehen – oder die Alhambra? Ach, egal. Spanien ist Spanien. Und wir werden immerhin dreizehn Tage dort sein. Besorg besser einen Sprachführer, Daisy …«
Würden sie mit den Kindern nach Broadstairs fahren, dann wäre das für sie nicht sehr aufregend, aber sie kämen in den Genuss bestimmter Annehmlichkeiten und Freuden, die ihnen vertraut sind – das übliche Strandglück, das sich bei den meisten Menschen todsicher einstellt. Aber wenn sie plötzlich sagen: »Der Arzt meint, ich muss einmal alles hinter mir lassen«, und: »Spanien! Wie herrlich!«, verlangen sie etwas, das, sofern überhaupt käuflich, nicht für ihre wenige Zeit und für ihr Geld zu haben ist. Sie verlangen Zutritt zur Welt der Plakate, einer Welt aus Kunststoff und Kobaltblau, aus Singen und Nichtstun, mit einer Nelke im Mundwinkel. Sie möchten – da die Peseta so günstig ist – endlich sehen, was sie sich in ihrer Kindheit vorgestellt haben und was in ihnen lebendig geblieben ist.
Aber Spanien – wie man jetzt vielleicht mitbekommt – ist keine Kinderfantasie, nicht die Welt der Plakate. Es ist ein Land mit Tiefe, sehr real und mit verstörenden Schatten. Und Santander, wohin so viele Ahnungslose in Scharen strömen, auf der Suche nach ihrem so nötigen Ferien-Glamour-Intermezzo, Santander ist vielleicht die nüchternste, die am wenigsten theatralische aller spanischen Hafenstädte. Sie besitzt nicht einmal Coruñas Atmosphäre närrischer Verwegenheit oder Bilbaos pockennarbige Erscheinung, völlig ruiniert durch den pausenlosen Ringkampf zwischen Gier und Elend. Nein, Santander ist eine schlichte, nüchterne Stadt von respektabler Bedeutung und Redlichkeit. Sie ist die Hauptstadt einer sehr interessanten Provinz, schön gelegen, blickt auf eine beachtliche Geschichte zurück, hat einige berühmte Kinder und kämpft nun, wie das restliche Spanien, mit akuten sozialen Problemen. Das regnerische und gemäßigte Klima gleicht dem von Devon oder Kerry; die Landschaft ist grün, fruchtbar und beschaulich; die Stadt liegt an der Biskaya, nicht am Mittelmeer. Die Menschen, aufgewachsen zwischen Bergen und Küste, besitzen in der Regel die Gesundheit, wie solche Bedingungen sie mit sich bringen, und den entsprechenden Mut. Sie sprechen ein gutes Kastilisch, sind zuvorkommend, humorvoll und freundlich; sie und ihre Lebensweise sind muy español, sehr spanisch, wie sie sagen würden.
Aber werden das auch die Dreizehn-Tage-Ausflügler sagen? Nein, denn sie haben keine Zeit herauszufinden, ob es stimmt. In diesen Ferien werden sie nur die Zeit haben, die Welt ihrer Plakate zu verlieren und nichts Realeres zu finden, um sie zu ersetzen. Denn solange man nicht sehr viel länger hier ist und vielleicht ein wenig Spanisch spricht, solange man sich nicht vorab richtig informiert, gut vorbereitet und keine sture, vorgefasste Meinung zu Spanien hat, solange wird man wenig Neues oder Denkwürdiges in La Montaña, wie die Region um Santander genannt wird, entdecken. Ist man allerdings Bergsteiger und weiß Bescheid, dann wird man sich gerade einmal für einen kurzen Drink auf dem Paseo aufhalten – gleich darauf den ersten Bus nach Reinosa oder Potes nehmen und dort seine Vorkehrungen treffen, um sich in den prachtvollen Picos de Europa den Hals zu brechen; als halbwegs aufgeweckter Tourist hat man auf der Landkarte entdeckt, dass man sich in der Nähe einer Perle Kastiliens befindet – Burgos –, und man wird den Bus nehmen – nicht den Zug – und dort mindestens eine Nacht verbringen; wenn man malt, hat einem sicher jemand von der Höhle von Altamira erzählt; ist man aber ein Träumer, ein melancholischer Jaques12, ein Eskapist, wird man an den verlorenen Ort San Vicente de la Barquera fliehen und seine zwölf Tage damit verbringen, dem Meer dabei zuzuschauen, wie es sich an den lecken Booten bricht, die Bögen der makellosen Brücke zu zählen und über die Schönheit der umherwimmelnden hungrigen, wilden Kinder zu staunen.
Aber angenommen, man ist ein völlig zielloser Urlauber, weiß nichts, außer dass man in Spanien gelandet ist, und versteht nichts von dem, was um einen herum vorgeht. Man hat vielleicht ein Zimmer irgendwo an einem der kleinen Strände von La Magdalena oder El Sardinero gebucht, Küstenvororten Santanders, die vor einigen Jahren von Alfons XIII. entdeckt wurden und denen die Stadt die anhaltende Beliebtheit als Urlaubsort verdankt. Man wird sein Hotel finden, und ich wette, man wird angenehm überrascht sein. Sollte man nicht wirklich Pech haben, ist es weiß gekalkt, sauber und karg wie ein Kloster. Im Zimmer gibt es fließend Wasser, und auch wenn das, was aus dem Warmwasserhahn kommt, nicht immer warm ist, so wird es doch fließen – und draußen vor dem großen Fenster erstreckt sich das Meer, blaugrau und freundlich wie das Meer vor Scarborough. Aber wenn man hinausgeht und in Richtung Casino und Musikpavillon, die man von der Straßenbahn aus sah, als man auf die Küste zufuhr, wenn man das große Café entdeckt, das über den Strand hinausragt, dann gibt es dort nur einen einzigen weiteren Gast – einen Mann in deutscher Tweed-Kleidung, der sich niedergeschlagen an seiner