Kanadische Erzählungen: Geschichten vom weiten Norden und ewigen Eis. Группа авторов

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Kanadische Erzählungen: Geschichten vom weiten Norden und ewigen Eis - Группа авторов

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selbst ihre Haken und Leinen verschwanden. Eines Nachts hielten einige von ihnen Wache und behielten die Leinen in den Händen. Einer von ihnen fühlte eine Bewegung, riss an seiner Leine und erwischte Rabe bei der Nase, denn er war es, der all die Köder aufgegessen hatte. Die Fischer zogen die Leine so schnell ins Kanu, dass Rabe keine Zeit blieb, seine Nase zu befreien. Da er sich aber nicht fangen lassen wollte, zog er in die Gegenrichtung und riss sich die Nase ab. Die Leute stellten fest, dass sie eine Nase gefangen hatten, wussten aber nicht, zu wem sie gehörte. Sie brachten die Nase in ihr Dorf und gaben sie einem ihrer Häuptlinge, der ein weiser und reicher Mann war. Alle kamen zu seinem Haus, um die Nase anzuschauen, aber niemand erkannte sie.

      Anstelle seiner Nase nahm Rabe einen Klumpen Pech, formte und färbte ihn. Dann ging er, seinen Hut tief ins Gesicht gezogen, ins Dorf. Er betrat das erste Haus. Die Leute sagten: »Du bist ein Fremder.« Er antwortete: »Ja, ich komme von einem anderen Ort.« Sie fragten ihn, aus welchem Land er käme und warum er gekommen sei. Er antwortete: »Oh, ich bin aus einem fernen Land gekommen, weil ich etwas gehört habe.« Sie fragten ihn, was er gehört habe. »Ich hörte, ihr habt etwas gefangen.« Sie antworteten: »Ja.« Er sagte: »Ich hörte, es ist ein sehr seltsamer Gegenstand. Ich will ihn sehen. Ich bin weit gereist, um dieses seltsame Ding zu sehen.« Sie wiesen ihn zum nächsten Haus. Auf diese Weise ging er durch alle Häuser, stellte dieselben Fragen und erhielt dieselben Antworten. Schließlich betrat er das Haus des Häuptlings. Dort hatten sich viele Menschen versammelt. Der Häuptling zeigte ihm die Nase und fragte ihn, ob er sie wiedererkennen würde. Rabe nahm sie in die Hand und untersuchte sie sehr lange und gründlich, während er zugleich seine Verwunderung über dieses seltsame Ding beteuerte. Als ein Moment kam, in dem die Leute abgelenkt waren, flog er mit der Nase durch das Rauchloch hinaus, setzte sich auf die obersten Zweige eines Baums und befestigte sie wieder an seinem Körper. Deshalb trägt die Nase des Raben heute ein Muster, als sei sie abgebrochen gewesen.

       von Pauline Johnson

      Die »Wanderung« dieses Jahr war äußerst ertragreich gewesen, und inzwischen neigte sich die Rotlachssaison dem Ende zu. Deshalb wunderte ich mich mehr als einmal, warum meine alte Freundin, die ›Indianerin‹, sich keiner Fangflotte angeschlossen hattewar. So unermüdlich und arbeitsam wie sie war, machte sie für gewöhnlich sogar ihrem Mann, einem vortrefflichen Lachsfänger, Konkurrenz, und das gesamte Jahr über hatte sie kaum von etwas anderem als der bevorstehenden Wanderung gesprochen. Und dennoch befand sie sich ausgerechnet diesen Herbst nicht unter ihresgleichen. Die Fangflotten und Fischfabriken hatten nichts von ihr gehört, und jedes Mal, wenn ich jemanden aus ihrem Stamm fragte, erhielt ich lediglich die Antwort: »Sie ist dieses Jahr nicht dabei.«

      An einem rotgoldenen Nachmittag im September aber sah ich sie schließlich. Ich war den Weg entlanggeschlendert, der vom Schwanenbecken bis um den Rand der Stromschnellen führt, als ich ihr elegantes, bogenförmiges Kanu erblickte, auf dem Weg zu dem Strand, wo die Tilikums2 der Mission am liebsten anlandeten. Ihr Kanu wirkte wie aus einem Traum, das Wasser ganz still, und über allem lag ein dünner, blauer Schleier, weil der Torf auf Lulu Island seit Tagen schwelte, sodass sein stechender Geruch und blaugrauer Dunst Meer, Ufer und Himmel in eine surreal anmutende Landschaft verwandelten.

      Eilig lief ich am Ufer entlang, rief ihr in der Sprache der Chinook einen Gruß zu, und als sie mich hörte, hob sie das Paddel direkt über ihren Kopf als ›indianischen‹ Gruß.

      Nachdem sie angelegt hatte, begrüßte ich sie, streckte die Hand aus, um ihr an Land zu helfen, denn die ›Indianerin‹ nähert sich allmählich einem fortgeschrittenen Alter; trotzdem paddelt sie noch wie ein junger Kerl gegen den Tidenstrom.

      »Nein«, sagte sie, als ich sie bat, ans Ufer zu kommen. »Ich werde warten – ich. Ich komme nur, um Maarda abzuholen. Sie war in Stadt, sie bald kommen – jetzt.« Allerdings gab sie bei diesen Worten ihre aufrechte »Arbeits«-Haltung auf und hockte sich wie ein Schulmädchen in den Bug ihres Kanus, die Ellenbogen auf dem Paddel, das sie auf dem Dollbord abgelegt hatte.

      »Ich habe dich vermisst, Indianerin. Drei Monde lang bist du nicht zu mir gekommen, hast weder gefischt noch bist du in der Konservenfabrik aufgetaucht«, bemerkte ich.

      »Nein«, sagte sie. »Ich bleibe dieses Jahr zu Hause.« Dann beugte sie sich zu mir und fügte mit einer gewissen Bedeutungsschwere in ihrer Gestik, in ihren Augen und in ihrer Stimme hinzu: »Ich habe ein Enkelkind, in der ersten Juliwoche geboren, darum – bleibe ich.«

      Das war also der Grund für ihre Abwesenheit. Selbstverständlich gratulierte ich ihr und erkundigte mich nach diesem besonderen Ereignis, denn schließlich war es ihr erstes Enkelkind und somit ist die kleine Person überaus wichtig.

      »Und, wirst du aus ihm einen Fischer machen?«, fragte ich.

      »Nein, nein, kein Jungen-Kind, es ist Mädchen-Kind«, antwortete sie mit einem gewissen unbeschreiblichen Gesichtsausdruck, der mich erahnen ließ, dass es ihr so lieber war.

      »Du freust dich, dass es ein Mädchen ist?«, fragte ich überrascht.

      »Sehr«, antwortete sie voller Überzeugung. »Ein Mädchen als erstes Enkelkind, sehr großes Glück. Unser Stamm ist nicht wie eurer; wir wollen Mädchen-Kinder zuerst. Wir wünschen nicht immer Knaben, geboren nur fürs Kämpfen. Deinen Leuten geht es nur um den Kriegspfad; unser Stamm ist friedlicher. Erstes Enkelkind ein Mädchen ist gutes Zeichen. Ich sage dir warum: Ein Mädchen-Kind wird vielleicht selbst eines Tages Mutter, Mutter sein ist große Sache.«

      Ich fühlte, dass ich den geheimen Kern ihrer Gedanken verstanden hatte. Sie freute sich, dass dieses Kind eines Tages eine der Mütter ihres Volkes werden sollte. Wir sprachen noch etwas länger, wobei sie mehrmals Sticheleien gegen meinen Stamm austeilte, der das Muttersein viel weniger schätzte als ihrer, und dafür Schlachten und Blutvergießen umso mehr. Dann schweiften wir ab zu dem Rotlachs und hyiu chickimin3, das die ›Indianer‹ kriegen würden.

      »Ja, hyiu chickimin«, wiederholte sie und seufzte zufrieden. »Immer, und hyiu muck-a-muck4, wenn große Lachswanderung. Hauptsache, das schlechte Jahr ganz ohne Fisch kommt nie wieder.«

      »Wann war das?«, fragte ich.

      »Vor deiner Geburt, und meiner, und«, dabei zeigte sie über den Park in Richtung Vancouver – eine Stadt, die an diesem Septembernachmittag Wohlstand und Schönheit ausstrahlte – »vor der Geburt dieses Ortes, bevor der weiße Mann herkam, oh, lange davor.«

      Ach, liebe ›Indianerin‹! Ihr trüber Blick verriet mir, dass sie wieder ins Land der Legenden zurückgekehrt war und mein Schatz an ›Indianersagen‹ schon bald noch reicher sein würde. Sie saß, stützte sich immer noch auf das Paddel, die Augen halb geschlossen, den Blick auf die Umrisse der verschwommenen Berge auf der anderen Seite der Bucht gerichtet. Ich werde nicht weiter versuchen, ihr gebrochenes Englisch wiederzugeben, somit ist das hier lediglich ein trüber Spiegel ihrer Geschichte, die Legende ist ohne ihre persönliche Note, eine Blume, der es an Farbe und Duft zugleich fehlt. Sie nannte die Geschichte »Als die Lachswanderung ausblieb«.

      Die Frau des Großen Tyee5 war ein blutjunges Mädchen, doch damals war einfach alles jung, selbst der Fraser River war jung und schmal, nicht der breite Strom von heute; doch der rosafarbene Lachs bevölkerte dessen Rachen schon damals, und die Tilikums fingen, pökelten und räucherten den Fisch so, wie sie es auch dieses Jahr taten und wie sie es immer tun werden. Der Winter war gekommen, die Regenfälle prasselten schräg herab und Nebelschwaden zogen über das Land, als sich die Frau des Großen Tyee vor ihn hinstellte und sagte:

      »Vor

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