Kanadische Erzählungen: Geschichten vom weiten Norden und ewigen Eis. Группа авторов

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Kanadische Erzählungen: Geschichten vom weiten Norden und ewigen Eis - Группа авторов

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Familie, streng zu seinem Stamm, leitete die Feuer-Versammlungen mit steinhartem Willen. Sein Medizinmann sagte, er trage kein menschliches Herz in seiner Brust; seine Kämpfer sagten, es fließe kein menschliches Blut in seinen Adern. Und doch umschloss er die Hände dieser Frau, und sein Blick, seine Lippen, seine Stimme waren so sanft wie die ihren, als er ihr antwortete:

      »Schenke mir ein Mädchen-Kind – ein kleines Mädchen-Kind –, damit sie heranwächst und so wird wie du, und damit auch sie wiederum ihrem Ehemann Kinder schenkt.«

      Als jedoch die Stammesmitglieder von dieser Wahl hörten, waren sie vor Ärger ganz aufgebracht. Voller Empörung umzingelten sie ihn in einem tiefen Kreis. »Du bist dieser Frau ein Sklave«, verkündeten sie, »und jetzt willst du dich zum Sklaven eines Frau-Kindes machen. Wir wollen einen Erben – ein Mann-Kind, der in den kommenden Jahren unser Großer Tyee wird. Wenn du alt und der Stammesangelegenheiten müde bist, wenn du in deine Decke gehüllt in der warmen Sommersonne sitzt, weil dein Blut alt und dünn ist, was kann ein Mädchen-Kind da für dich oder uns schon tun? Wer soll dann unser Großer Tyee werden?«

      Und der Große Tyee stand mit verschränkten Armen inmitten dieses bedrohlichen Kreises, das Kinn stolz emporgereckt, der Blick felsenfest. Mit eiskalter Stimme entgegnete er:

      »Vielleicht wird sie euch ein solches Mann-Kind schenken, und dann gehört jenes Kind euch; er wird euch gehören, nicht mir. Er wird dem Volk gehören. Aber wenn das Kind ein Mädchen wird, wird sie mir gehören – sie wird mein sein. Ihr könnte sie mir nicht wegnehmen, so wie ihr mich von der Seite meiner Mutter weggenommen und mich gezwungen habt, meinen gealterten Vater zu vergessen, um dem Stamm zu dienen. Sie wird mir gehören, die Mutter meiner Enkelkinder sein und ihr Mann wird mein Sohn sein.«

      »Dir geht es nicht um das Wohl deines Stammes. Sondern nur um deine eigenen Wünsche«, protestierten sie. »Wenn die Lachswanderung nun kläglich ausfallen sollte, dann werden wir kein Essen haben, und wenn es dann kein Mann-Kind gibt, werden wir keinen Großen Tyee haben, der uns zeigt, wie wir von anderen Stämmen Essen bekommen, und somit werden wir verhungern.«

      »Eure Herzen sind finster und blutleer«, erwiderte der Große Tyee darauf mit donnernder Stimme. Kampfbereit blickte er sie an: »Und eure Augen sind geblendet. Wollt ihr, dass der Stamm vergisst, wie bedeutend ein Kind ist, das eines Tages selbst Mutter sein und euren Kindern und Enkelkindern einen Großen Tyee schenken wird? Sollen die Menschen leben, wachsen und gedeihen, sollen sie sich vermehren und mächtiger werden ohne Mütter, die zukünftige Söhne und Töchter zur Welt bringen werden? Euer Geist ist tot, eure Hirne kalt. Doch selbst in dieser Ignoranz seid ihr noch meine Familie: Ihr und eure Wünsche müssen Beachtung finden. Ich werde alle großen Medizinmänner zusammenrufen, alle Hexenmeister und alle Zauberer. Sie sollen entscheiden, was passiert, je nachdem, ob es ein Jungen- oder ein Mädchen-Kind wird. Was sagt ihr dazu, ihr ach so mächtigen Männer?«

      Entlang der Küste wurden Botschafter ausgesandt, den Fraser River hinauf und mehrere Meilen ins Landesinnere hinein, zu den Tälern, um all die weisen Männer einzuberufen, die sie finden konnten. Noch nie zuvor waren so viele Medizinmänner in einem Rat vereint. Sie machten große Feuer, tanzten und sangen mehrere Tage lang. Sie riefen die Götter der Berge, die Götter des Meeres an, bis sie schließlich eine »Eingebung« hatten. Sie stellten die Stammesmitglieder vor eine Wahl, und der älteste Medizinmann aus der gesamten Küstengegend erhob sich und verkündete ihren Beschluss:

      »Der Stamm kann nicht alles haben. Sie wollen ein Jungen-Kind und eine ertragreiche Lachswanderung. Sie können nicht beides haben. Der Safalie Tyee, der große Mann der Magie, hat uns gezeigt, dass diese beiden Dinge zu Arroganz und Egoismus führen. Also muss der Stamm sich für eines entscheiden.«

      »Ihr sollt wählen, ihr unwissenden Stammesmitglieder«, befahl der Große Tyee. »Die weisen Männer unserer Küste haben gesagt, dass das Mädchen-Kind eines Tages selbst Kinder zur Welt bringen und uns reichlich Lachs zum Zeitpunkt ihrer Geburt schenken wird, während ein Jungen-Kind lediglich sich selbst zu euch bringen wird.«

      »Vergesst den Lachs«, riefen die Stammesmitglieder da, »aber schenkt uns einen neuen Großen Tyee. Schenkt uns ein Jungen-Kind.«

      Und als das Kind geboren wurde, war es ein Knabe.

      »Unheil wird euch heimsuchen«, wehklagte der Große Tyee. »Ihr habt eine Mutter verschmäht. Ihr werdet Unheil erfahren, an Hunger und Armut leiden, o ihr törichten Menschen! Wusstet ihr denn nicht, wie bedeutend ein Mädchen-Kind ist?«

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      In jenem Frühling reisten die Mitglieder dutzender Stämme zur Lachswanderung an den Fraser River. Sie kamen von weither – aus den Bergen, von den Seen, von den fernen trockenen Gebieten, doch kein einziger Fisch fand sich in den breiten Flüssen an der Pazifikküste. Die Stammesmitglieder hatten sich entschieden. Sie hatten vergessen, welche Ehre ihnen eine Mutter gebracht hätte. Sie hatten ihre Nahrung verspielt. Sie lebten in großer Armut. Im folgenden Winter litten sie Hunger. Seitdem ist die bevorstehende Geburt eines Mädchen-Kindes für unseren Stamm ein Grund zur Freude – wir wollen kein Jahr mehr, in dem der Lachs ausbleibt.

      Als die ›Indianerin‹ ihre Geschichte beendet hatte, hob sie die Arme von dem Paddel, ihr Blick ließ von den verschwommenen Konturen der violett gefärbten Berge ab. Sie war wieder zurück in diesem guten Jahr – ihre Legendenwelt war verschwunden.

      »Vielleicht«, fügte sie hinzu, »verstehst du jetzt, warum ich mich über ein Enkelin freue. Es bedeutet viel Lachs im nächsten Jahr.«

      »Das ist eine wunderschöne Geschichte«, sagte ich, »und mich erfüllt eine diebische Freude, wenn ich daran denke, dass eure weisen Männer die Menschen für ihre törichten Entscheidungen bestraft haben.«

      »Das liegt daran, dass du selbst ein Mädchen-Kind bist«, sagte sie und lachte.

      Hinter mir hörte ich das leiseste Huschen eines Schrittes. Als ich mich umdrehte, stand Maarda fast neben mir. Mit steigender Flut löste sich das Kanu vom Uferboden, und als Maarda einstieg und die ›Indianerin‹ nach hinten rutschte, trieb es aufs Wasser hinaus.

      »Kla-how-ya«, verabschiedete sich die ›Indianerin‹ und nickte mir zu, als sie das Paddel geräuschlos eintauchte.

      »Kla-how-ya«, sagte auch Maarda lächelnd.

      »Kla-how-ya, Tilikums«, erwiderte ich und schaute ihnen noch eine Weile nach, während das Kanu mit ihnen davontrieb, bis es schließlich in der verschwommenen Ferne mit dem Violett und Grau des anderen Ufers verschmolz.

       von Franz Boas 6

      Sedna und der Eissturmvogel

      An einer einsamen Küste lebte einst ein Inung mit seiner Tochter Sedna. Seine Frau war schon lange tot und die beiden führten ein bescheidenes Leben. Sedna wuchs zu einem hübschen Mädchen heran und von überall her kamen die jungen Männer und warben um ihre Hand. Doch keinem gelang es, ihr stolzes Herz zu rühren. Schließlich – zu jener Zeit, wenn im Frühling das Eis bricht – flog ein Eissturmvogel heran und lockte Sedna mit einem verführerischen Lied. »Komm mit mir«, flüsterte er, »komm ins Land der Vögel, wo es nie Hunger gibt und mein Zelt aus den allerschönsten Fellen besteht. Du wirst auf weichen Bärenfellen ruhen. Meine Gefährten, die Eissturmvögel, werden dir alles bringen, was dein Herz begehrt: Ihre Federn werden deine Kleider sein, deine Lampe soll stets mit Öl und

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