Vom Bürger zum Konsumenten. Группа авторов
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»The economy, stupid!«, also: »Die Wirtschaft, Dummkopf!«. Hinter dieser flapsigen Bemerkung von James Carville, dem Strategen von Bill Clintons erfolgreicher Kampagne bei der US-Präsidentschaftswahl 1992, verbirgt sich längst nicht mehr nur der Hinweis, dass die wirtschaftliche Lage Wahlen entscheidet. Dass Geld die Welt regiert, haben wir mittlerweile so oft erfahren, dass die meisten bereit sind, es als Naturgesetz hinzunehmen und folglich ihr Denken und Handeln danach auszurichten. Marktwirtschaft kann also nicht nur innovative, kreative oder zivilisierende Kräfte freisetzen, sondern auch entmutigende und beengende. Viele akzeptieren dieses Denken, weil sie hoffen, dadurch selbst reich und einflussreich zu werden, andere, um ihre eigene Lethargie zu rechtfertigen: »Dagegen kann ich als kleiner Mensch sowieso nichts machen.«
Wenn dem allerdings so wäre, hätten unsere Vorfahren nie die Demokratie erkämpft. Diese Staatsform – wir sollten uns daran immer wieder erinnern – weist uns Bürgerinnen und Bürgern die Rolle des Souveräns zu. Staat, Justiz und Wirtschaft sind uns gegenüber zwar nicht weisungsgebunden, aber unserem Wohl verpflichtet. So weit, so idealistisch. In der Realität war dies schon immer ein fragiles Konstrukt, weil eine Gesellschaft weder homogen noch herrschaftsfrei denkbar ist. Umso wichtiger ist es, wer die Regeln des Zusammenlebens definiert und durchzusetzen vermag. Dies ist ein permanenter, im besten Fall fairer und konstruktiver Prozess, in dem niemand unumschränkte Macht erhält, sodass Fehler und Fehlentwicklungen stets korrigiert werden können. Selbstverständlich aber ist dies nicht. Es wird immer Menschen und Gruppen geben, die nach der ganzen Macht greifen wollen, anstatt sie demokratisch zu teilen.
Man kann sich eine solche Gesellschaft als ein gewaltiges Mobile vorstellen, in dem unzählige Spannungen, Kräfteverhältnisse und Widersprüche immer wieder neu austariert werden müssen. Da geht es um Freiheit und Sicherheit, Macht und Kontrolle, Eigennutz und Gemeinwohl, individuelles Erfolgsstreben und solidarisches Teilen. Die Liste kann mühelos verlängert werden. Ist die Balance an einer oder mehreren Stellen vorrübergehend erreicht, geraten andere Bereiche aus dem Lot, weil manche Akteurinnen und Akteure versuchen, diese Balance zu beeinflussen – oft aus legitimen, wenngleich individuellen Motiven, manchmal aber auch in illegitimer Absicht. Zudem können politische oder ökonomische Umwälzungen sowie technologische Innovationsschübe wie derzeit die Digitalisierung ein solches System mit seinen zahlreichen Subsystemen in eine äußerst unübersichtliche, fragile Lage manövrieren. Das sind Zeiten, in denen die Grundsätze unseres Zusammenlebens neu verhandelt und austariert werden müssen. Zeiten wie diese.
Um was es dabei auch geht, lässt sich am Beispiel des Begriffs »Verantwortung« zeigen. Dieser Begriff avanciert zwar erst mit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Grundprinzip der westlichen Ethik, schlägt sich jedoch schon zuvor im juristischen Haftungsgrundsatz oder dem Ideal des ehrbaren Kaufmanns nieder (vgl. Bayertz 1995). Für ehrbare Kaufleute – ja, solche gibt es weiterhin – gelten gewisse Grundsätze wie Aufrichtigkeit und Fairness unverändert. Allerdings wirken solche Grundsätze für manche Menschen heutzutage nicht nur deswegen antiquiert, weil anonyme internationale Konzerne längst die Geschicke der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung bestimmen, sondern auch deswegen, weil manche dieser Unternehmen noch immer systematisch versuchen, ihrer ethischen wie juristischen Verantwortung auszuweichen. Dabei folgen sie der Logik, dass es Gewinne zu maximieren, die negativen Konsequenzen hingegen zu sozialisieren gelte. Das geschah in der Finanzmarktkrise, das ist so in der Umweltpolitik. Plastisch vor Augen geführt wurde es uns auch beim Dieselskandal, als mehrere Autohersteller lieber eine Betrugssoftware programmieren ließen, die Abgasmessungen fälschte, als sich um Abgasminderung zu bemühen, weil dies länger gedauert und damit Umsätze und Gewinne geschmälert hätte. Persönlich in Haftung genommen wurden die Verantwortlichen bis heute nur bedingt. Dass solche »Vorbilder« nicht nur das Verhalten vieler Menschen im Wirtschaftsleben beeinflussen, sondern auch im alltäglichen sozialen Miteinander, scheint naheliegend.
Wie es anders ginge, erklärt uns der Philosoph Karl Popper sinngemäß so: Wir müssen uns selbst – und niemand sonst – in die Pflicht nehmen und Verantwortung übernehmen. Für uns und unser Handeln. Und damit nicht zuletzt auch für die Geschichte. Wenn der Einzelne dazu nicht bereit ist, verabschieden wir uns Schritt für Schritt aus der Zivilisation und laden die Barbarei zur Rückkehr ein (Popper 2003). Popper steht damit in einer langen aufklärerischen Tradition von Immanuel Kant bis zu Isiah Berlin, Ralf Dahrendorf oder Norbert Elias, der – knapp zusammengefasst – zu der Erkenntnis kommt: In dem Maße, in dem wir unsere individuelle Freiheit gewinnen, müssen wir äußeren Zwang durch innere Kontrolle ersetzen. Das heißt, wir sind zunehmend zur Selbstverantwortung verpflichtet (Elias 1976). Manche Philosophen wie etwa Hans Jonas gehen angesichts unserer weitreichenden, potenziell sogar vernichtenden technologischen Handlungsmacht noch einen Schritt weiter und stellen fest, dass Verantwortung heute vor allem darin bestehe, uns in konsequenter freiwilliger Selbstbeschränkung zu üben (Jonas 1979).
In Zeiten großer Umbrüche, wie wir sie aktuell erleben, beeinflussen zahlreiche Kräfte und Faktoren die gesellschaftliche Entwicklung. Die Digitalisierung (eine Technologie gewordene Scheinobjektivität) erfasst immer weitere Teile des Lebens und verändert unsere Gewohnheiten grundlegend. Sie begünstigt zudem nicht nur eine wachsende Globalisierung unseres Wirtschaftens, sondern auch einen Kapitalmarkt, der sich nationaler Regulierung entzogen und sich vom Diener des ehrbaren Kaufmanns zu dessen Herrn aufgeschwungen hat. Dies wird dadurch begünstigt, dass die Politik nicht nur das Primat über die Wirtschaft bei der Definition und Durchsetzung von Regeln verliert. In immer mehr Ländern verbündet sie sich mit der Wirtschaft zulasten der Gesellschaft und der Freiheit ihrer Bürgerinnen und Bürger. China ist da nur ein besonders drastisches Beispiel.
Norbert Blüm, Christdemokrat und Minister für Arbeit und Soziales in der Regierungszeit von Helmut Kohl (1982–1998), beschrieb die für ihn sichtbare Gefahr mit der ihm eigenen Direktheit: »Wir haben es mit einer Wirtschaft zu tun, die sich anschickt, totalitär zu werden, weil sie alles unter den Befehl einer ökonomischen Ratio zu zwingen sucht. […] Aus Marktwirtschaft soll Marktgesellschaft werden. Das ist der neue Imperialismus. Er erobert nicht mehr Gebiete, sondern macht sich auf, Herz und Hirn der Menschen einzunehmen. Sein Besatzungsregime verzichtet auf körperliche Gewalt und besetzt die Zentralen der inneren Steuerung des Menschen« (Blüm 2006, 81).
Wir wollen uns im Folgenden damit beschäftigen, wie Ökonomisierung immer weitere Teile unseres Denkens und Handelns erfasst und verändert. Grundsätzlich lässt sich Ökonomisierung als ein Prozess beschreiben, bei dem sich die Ordnungsprinzipien des Marktes auch auf solche Güter und Praktiken ausbreiten, die bislang nicht (primär) ökonomisch organisiert waren, sondern vielmehr solidarisch oder privat geteilt wurden. Sie werden nun in »Produkte« umgewandelt und über Preise auf Märkten gehandelt (vgl. Boltanski/Chiapello 2003). Im Unterschied zu dieser eher kategorialen Umdeutung bezeichnet der verwandte Begriff der »Kommerzialisierung« eine graduelle Intensivierung der Marktlogik bei solchen Gütern und Praktiken, die ohnehin bereits auf Märkten gehandelt wurden. Gemeinsam ist beiden Prozessen, dass sie der Logik marktwirtschaftlichen Denkens (Effizienz, Verwertbarkeit, Messbarkeit, Gewinnorientierung, Steigerung) folgen. Im Fall der Ökonomisierung bietet es sich zudem an, mehrere Entwicklungsstufen zu unterscheiden. Diese reichen – je nach Unterteilung – von einer ersten Stufe, auf der die Menschen über keinerlei Kostenbewusstsein verfügen und Zahlungsfähigkeit problemlos gegeben ist, bis hinauf zu jenen Sphären, in denen von Menschen erwartet wird, ihr Handeln grundsätzlich marktförmig auszurichten oder sogar Gewinne als einziges Ziel zu verfolgen (vgl. Schimank/Volkmann 2008; Volkmann 2019). Insbesondere um jene letzten beiden Stufen geht es, wenn von »Ökonomisierung« im engeren Sinn die Rede ist. Sie stehen im vorliegenden Band mitsamt ihren Nebenwirkungen und Hintergründen zur Diskussion.
Das wirtschaftliche Handeln in modernen kapitalistischen Ökonomien wird jedoch nicht nur von sozialen