Vom Bürger zum Konsumenten. Группа авторов

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sondern auch Erwartungen verschieben, zeigt sich besonders in der Politik. Der Bürger als Souverän wird zunehmend unduldsam, weil »die Politik« allfällige Probleme nicht so effektiv zu lösen vermag wie es Unternehmen angeblich tun. Dass wir in unserer Rolle als Bürgerinnen und Bürger über unveräußerliche Rechte verfügen, die sich aus dem ersten Satz unserer Verfassung, dem Würde-Grundsatz im Grundgesetz, ableiten, und daher beispielsweise kein Bürger aus dem Staat entlassen werden kann wie ein Mitarbeiter aus einem Unternehmen, wird dabei gelegentlich übersehen. Häufiger noch wird übersehen, dass unter Politikerinnen und Politikern dieselben unterschiedlichen Interessen versammelt sind wie in der Gesellschaft und folglich auch hier niemand über absolutes Wissen und absolute Macht verfügt (verfügen soll!). Umso verführerischer glänzt für manche Digital-Apologeten folglich die Verheißung, dass Algorithmen bald in der Lage sein könnten, der Politik den richtigen Weg zu weisen: evidenzbasierte Politik eben. Aber wer programmiert wie die Algorithmen? Die Schöne neue Welt des Schriftstellers Aldous Huxley lässt grüßen.

      Viele politische Entscheidungsträgerinnen und -träger haben derartige Erwartungshaltungen und die damit notwendig verbundenen Enttäuschungen allerdings auch selbst bestärkt. Etwa, indem sie notorisch den Eindruck vermittelt haben, »gute Politik« bemesse sich primär oder gar allein an der Senkung der Arbeitslosenzahlen oder der Steigerung des Bruttoinlandsprodukts, also an wachstumsorientierter Wirtschaftspolitik. Oder indem sie zu wenig dagegen unternommen haben, dass die Einkommen im oberen Zehntel der Bevölkerung in den letzten 30 Jahren um 30 % gestiegen sind, während sie im unteren Zehntel um 10 % gesunken sind. So besitzen heute 45 Deutsche so viel wie die gesamte ärmere Hälfte der Bevölkerung zusammen. Es wurde also eine Umverteilung von unten nach oben geduldet, von der inzwischen die Hälfte des Mittelstands betroffen ist. Viele Menschen haben daher nicht nur berechtigte Abstiegsängste, sondern neigen auch populistischen Parteien zu. Damit lässt eine forcierte Marktwirtschaft, wie wir sie in den vergangenen Jahrzehnten erlebt haben, die bürgerliche Mitte der Gesellschaft erodieren und gefährdet eine liberale Gesellschaft sowie schließlich die Fundamente des Rechtsstaats.

      Dass es überdies die Tendenz gibt, selbst die Kultur auf ein Konsumgut zu reduzieren, haben schon Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung analysiert. Gehörte für Karl Marx die Kultur noch zum Überbau, auch wenn sie Ausdruck der Interessen der herrschenden Klasse war, so war die Entstehung der Kulturindustrie, wie sie sich zunächst in Hollywood ausbildete, für Adorno die Umwandlung der Kultur selbst in eine Ware. Noch sauberer getrennt waren zu seiner Zeit Kultur und Technologie. Die Digitalisierung ermöglicht heute jedoch eine Annäherung von Ökonomie, Technik, Unterhaltung und Telekommunikation zu einer kaum mehr differenzierbaren Gemengelage. Das Ergebnis ist eine Lizenz zum Gelddrucken. Hier gilt der Dreiklang: Privatisierung, Kommerzialisierung, Eventisierung.

      Andererseits: Kultur war schon immer besonders auf die Gunst des Geldes angewiesen. Herrscher hielten sich von alters her ihre Hofnarren und Sänger zur Demonstration ihres Reichtums und Einflusses; Kirchen und Paläste waren lukrative Orte für Künstler, Schauspieler, Musiker und Komponisten. Zwar gab es stets aufklärerische, revolutionäre Kunst und Kultur, doch die Demokratisierung kam erst spät und nur bedingt voran. Heute ist Kultur als »weicher Standortfaktor« längst fester Bestandteil der Selbstvermarktung von Städten und Bundesländern. Auf der anderen Seite stehen die Anstrengungen der Kulturpolitik, steht die Rolle der Kultur als »ethisch-moralische Daseinsvorsorge« (Oehm 2016). Öffentlich-rechtliche Orchester und Theater können mit einer Selbstfinanzierungsquote von unter 20 % dank staatlicher Unterstützung blühen, müssen aber bei jeder Krise der öffentlichen Haushalte bangen. Staatliche Sammlungen, Museen und Schlösser hegen und pflegen das Erbe der Geschichte und ermöglichen neue Werke als Hinterlassenschaft an die Nachfahren. Aber ein wenig stellt sich auch hier der Verdacht ein, diese Politik diene nicht primär aufklärerischen Zielen, sondern folge der Erkenntnis: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, es müssen Brot und Spiele sein. Was hierbei schwindet, sind die gesellschaftlichen Räume für offene kollektive Selbstverständigung und für das Spiel mit (vermeintlicher) Nutzlosigkeit, Dysfunktionalität, Missverständnissen, Fehlern und Provokationen.

      Vor allem aber – und oft zuallererst – kolonialisieren ökonomische Denkfiguren und Imperative unser Selbstverhältnis und unser Menschenbild, also diejenige Weise, in der wir uns selbst in die Welt gestellt sehen. Wenn dies geschieht, neigen wir immer stärker dazu, unsere eigenen Anlagen und Fähigkeiten permanent messen, steigern, optimieren und ökonomisch verwerten zu wollen. So wird ein Tag zu einer bloßen Summe von gezählten Schritten und Herzfrequenzspitzen, werden die einzelnen Lebensphasen zur bloßen Summe von erfolgreich gemanagten Projekten, und das Leben selbst zu einem permanenten »business case« in eigener Sache.

      Auch dieser Zwiespalt macht einmal mehr deutlich, worum es beim Nachdenken über die Ökonomisierung unseres Denkens und dessen Folgen letztlich geht. Es geht um die Frage, ob wir in einer allerorts markttauglich gemachten Gesellschaft leben wollen – oder ob wir eine menschenzentrierte Gesellschaft anstreben, auf die hin das Marktgeschehen domestiziert und begrenzt wird.

      Dieses Buch kann nicht einmal annähernd alle historischen und systematischen Aspekte dieses weit verzweigten Themas untersuchen. Die Autorinnen und Autoren haben aus ihren unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und Forschungsfeldern daher jeweils einen Aspekt ausgesucht, der Ökonomisierungstendenzen in so grundlegenden Bereichen wie dem digitalisierten Marktgeschehen, der Natur, dem Gesundheits- und Bildungswesen, der medialen Öffentlichkeit, dem Wohnen und unserem Selbstverhältnis exemplarisch beleuchtet. In Gänze ergibt sich so eine Sammlung, die verdeutlicht, wie schillernd, vielschichtig und oft auch unscharf der Begriff der »Ökonomisierung« ist, die jedoch zugleich erahnen lässt, vor welchen Herausforderungen wir als Gesellschaft im klugen Umgang mit dieser Dynamik stehen. Mögliche Lösungsideen werden herausgearbeitet und zur Diskussion gestellt – nicht als fertige Konzepte, sondern als hoffentlich allgemeinverständliche, anregende Perspektiven für eine breite und fundierte Diskussion. Bei dieser dürfen wir alle dem Motto folgen: Es darf nicht nur die Wirtschaft sein, Dummkopf.

      Literatur

      Bayertz, Kurt (1995): Eine kurze Geschichte der Herkunft der Verantwortung. In: Ders. (Hrsg.), Verantwortung: Prinzip oder Problem? Darmstadt: WBG, S. 3–71

      Blüm, Norbert (2006): Gerechtigkeit, Eine Kritik des Homo oeconomicus. Freiburg i. Br.: Herder

      Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK

      Dahrendorf, Ralf (1965): Bildung ist Bürgerrecht. Hamburg: Nannen

      Elias, Norbert (1976): Über den Prozess der Zivilisation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

      Habermas, Jürgen (1962): Strukturwandel der Öffentlichkeit, Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied/Berlin: Luchterhand

      Jonas, Hans (1979): Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

      Mannheim, Karl (2015): Ideologie und Utopie. Frankfurt a. M.: Klostermann (Erstausgabe: Bonn 1929)

      Oehm, Stefan (2016): Kunst ist das Herz der Demokratie. In: Der Freitag, 29.11.2016

      Popper, Karl (2003): Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Tübingen: Mohr Siebeck

      Schimank, Uwe/Volkmann, Ute (2008): Ökonomisierung der Gesellschaft. In: Maurer, Andrea (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftssoziologie. Wiesbaden: Springer, S. 382–393

      Volkmann, Ute (2019): Gesellschaftliche Ökonomisierung und die Gegenkräfte. In: Graf, Rüdiger (Hrsg.), Ökonomisierung. Debatten und Praktiken in der Zeitgeschichte. Göttingen: Wallstein, S. 29–54

      Die Privatisierung des

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