Das skurrile Leben der Myriam Sanders. Melanie Müller
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Sie sieht zuerst Myriam an und dann Noemi.
«Es tut mir leid. Ich wollte nicht unterbrechen», quietscht die Praktikantin schüchtern.
Myriam schüttelt ihren Kopf. «Nein, ähm, Frau Moretti wollte gerade ...»
«Gehen», ergänzt Noemi den Satz und tritt an Myriams Seite. «Du wolltest mich zu meinem Auto bringen.»
«Richtig, ja. Ich wollte Frau Moretti zu ihrem Auto bringen.»
Annie nickt. Dann hält sie einen Ordner hoch. «Ich habe die Fotos in der Anwaltskanzlei abgegeben, wie du es gesagt hast. Er hat mir diese Akten zur Unterschrift mitgegeben.»
«Perfekt», antwortet Myriam und hält die Tür offen, damit Noemi hindurchgehen kann. «Ich komme gleich wieder.»
Myriam und Noemi gehen schweigend durch den Flur und dann die Treppe hinunter. Draußen auf dem Bürgersteig verabschiedet sich Noemi und will sich auf den Weg zu ihrem Mercedes machen. Myriam stoppt sie mit einer Hand an ihrem Ellbogen.
«Ich übernehme den Fall!», erklärt Myriam.
Noemi sieht sie an und nickt. «Du meinst …?»
«Ich hole den Schlüssel für dich. Was und wo auch immer er ist.»
Noemi umarmt Myriam. Eine innige Geste, die Myriam, trotz der intimen Handlung, die sie Minuten zuvor durchgeführt hat, überrascht. Als sie loslässt, greift sie in eine kleine Handtasche und zieht einen schwarzen Briefumschlag hervor. Sie öffnet die Klappe, zieht ein Stück samtschwarzen und violetten Kartenkarton in Postkartengröße heraus und reicht es ihr. Myriam betrachtet das kleine Rechteck. Es ist eine elegante Einladung zu einer Party. Die Schrift darauf ist mit Blattgold geprägt. Heaven & Hell Mixer in The Pearl. Bist du ein Engel oder ein Dämon? Rausfinden. Einladung gewährt Inhaber + 1 Gasteintritt.
«Dies ist für heute Abend!», bemerkt sie und liest das Datum und die Uhrzeit, die unten abgedruckt sind. Noemi nickt. «Dies ist meine vorerst einzige Chance, damit du agieren kannst. Und ich kann lange genug von zu Hause wegbleiben, um diese Vereinbarung mit dir zu treffen. Ich werde mir noch Dessous kaufen, damit es realistisch ist, dass ich so lange weg bin, ich will keinen Zweifel an meiner Aufrichtigkeit lassen. Ich entschuldige mich, wenn das auch sehr kurzfristig ist, Myriam.»
Sie schiebt die Einladung zurück in den Umschlag und steckt sie in Myriams Jacke.
«In Anbetracht der Kürze der Zeit, verzichte ich auf eine Anzahlung. Es reicht, wenn du mir 500 Euro heute Nachmittag auf mein PayPal-Konto überträgst. Hier ist meine e-Mail-Adresse.»
«Okay, das mache ich, kannst dich drauf verlassen.»
«Und wenn ich erfolgreich meinen Job erledigt habe, bekomme ich noch einmal 500 Euro. Ist das in Ordnung für dich?»
«Ja, alles gut. Abgemacht. Die Anzahlung heute Nachmittag und den Rest nach erfolgreichem Abschluss.»
«Ich habe zwar ein Date mit Netflix und einer Flasche Scotch, aber ich nehme an, das kann warten.» Myriam öffnet die Wagentür für sie.
«Und du wirst einen Gast mitbringen? Für den Anschein. Nicht viele tauchen alleine auf.»
«Ah, verdammt. Ich dachte, du wärst mein Date.»
«Sorry! Wenn du den Schlüssel hast, Myriam, bin ich ganz bei dir, wenn es dir gefällt.»
Noemi gibt ihr einen warmen Kuss auf die Lippen, bevor sie in ihren eleganten Mercedes steigt.
«Bis heute Abend!», gurrt sie. Myriam sieht zu, wie ihre Heckleuchten um die Ecke verschwinden. Sie ist eine Frau, die das Leben bereichern und in Unordnung bringen kann.
Aber, hey, no risk, no fun? Ich bin mir nicht ganz sicher, was für einen Job ich für diese Nacht unterschrieben habe? Bin ich Verhandler? Den Schlüssel stehlen? Ich denke, ich werde einfach das tun, was ich immer tue. Spiel es nach Gespür. Vodoo, das ist doch alles Quatsch. Das Rätsel werde ich lösen. Bring einen Gast mit, hat sie gesagt. Wen könnte ich anrufen, um mich zu eskortieren? Eine hochkarätige Angelegenheit wie diese? Ich würde wie ein schmerzender Daumen herausragen, wenn es nicht die passende Begleitung wäre. Ich würde ein elegantes Mädchen an meinem Arm brauchen, um hineinzupassen. Aber wer? Und was ist das Pearl? So viel ich weiß, handelt es sich um einen angesagten Club in bester Charlottenburger Lage gegenüber dem Theater des Westens, zieht die Stars und Sternchen wie Justin Bieber, Sängerin Rita Ora, Mike Tyson, Fußballspieler und deutsche Schauspieler wie z.B. Nora Tschirner, ein Club mit edlem Ambiente an. Außerdem bucht der Club regelmäßig exklusive Live Acts wie FUTURE, Travis Scott oder Größen aus der deutschen Musikszene. Für Partyspaß sorgt dabei ein zehn Meter hoher Wasserfall im Lounge-Bereich, eine kraftvolle Soundanlage, der LED Dancefloor.
Eine regelmäßige Veranstaltung im Partykalender des Clubs ist die After-Work-Party, die hier in Kooperation mit dem Radiosender 104.6 RTL veranstaltet wird. Immer donnerstags gibt es beim Ku‘damm neben den besten Hits zum Tanzen beim After Work auch eine Kleinigkeit zu Essen wie Pizza oder Fingerfood, das im Eintritt inbegriffen ist.
Und da gehe ich heute Abend mit einer Begleitung hin. Thema: Himmel und Hölle. Ist wohl eine Sonderveranstaltung. Mal sehen, was mein Kleiderschrank dazu sagt. Das Finanzielle ist gesichert.
Myriam geht zurück in ihr Büro. Annie lehnt am Schreibtisch. Sie umarmt den Ordner, den sie aus der Kanzlei des Anwalts mitgebracht hat. Sie sieht Myriam mit ihren großen blauen Augen an. Sie schüttelt den Kopf, um eine glänzende, braune Haarsträhne aus ihrem Gesicht zu entfernen.
Myriam lächelt. «Was macht deine Beziehung?»
Annie schüttelt den Kopf und sieht zu Boden.
«Du bist nicht mehr bei dem Kerl? Wie heißt er?»
«Todd? Nein. Er hat sich als echter Idiot erwiesen», erwidert Annie. «Außerdem haben wir nie richtig zusammen gepasst, weißt du – da wo es zählt.»
«Hast du heute Abend irgendwelche Pläne?»
«Ich? Nein», antwortet sie.
«Willst du mit mir zu einer Party gehen?» Annie sieht verblüfft aus.
«Oh, danke, aber ich stehe nicht auf Mädchen.» Myriam ist nicht überrascht, denn das wusste sie.
«Nein, es ist nichts dergleichen. Arbeitssache. Ein bisschen Geselligkeit, vielleicht einige Informationen mit geringem Einfluss.»
«Klingt irgendwie lustig. Sicher!»
«Großartig. Dies ist eine schicke Angelegenheit, wenn du ein Kleid hast, das für den Rahmen angemessen ist?»
Ihr Gesicht leuchtet auf.
«Ich habe ein Kleid von meinem Abschlussball! Es ist so ein wunderschönes Teil, ich wollte es immer wieder tragen.»
Myriam lächelt. «Dann ist es ein Date. Ich hole dich um einundzwanzig Uhr ab.»
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