Mama, ich höre dich. Alwin Meyer

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Mama, ich höre dich - Alwin Meyer

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war Lydias Schwester Věra.

      Else Schmidt (Mitte) mit ihrer Adoptivmutter Auguste Matulat und deren Töchtern in Hamburg. Das achtjährige Mädchen wurde der Familie weggenommen und nach Auschwitz-Birkenau verschleppt.

      Die Realität des Lagers blieb keinem Kind verborgen. Auch der achtjährigen ELSE SCHMIDT nicht. Sie bekam die Nummer Z 10540 auf ihren linken Unterarm tätowiert. Else kam ins »Zigeuner-Familienlager«: »Ich war völlig auf mich alleine gestellt. Ich kam in Auschwitz-Birkenau ja ohne Familie an. Alles war furchtbar. Ich verstand gar nichts von dem, was mit mir und um mich herum geschah.« – Was Else sah und erlebte, hatte sie noch nie zuvor erlebt oder gesehen. »Ich kam doch aus einem guten Haushalt.« Sie, die heute Else Baker heißt und in der Nähe von London lebt, erinnert sich auch jetzt noch ganz genau daran: »Die Baracken waren furchtbar voll. So viele Menschen hatte ich noch nie auf einmal gesehen. Manche waren ganz mager, sahen wie richtige Skelette aus und hatten ganz tiefe Augen.« Das Mädchen fühlte sich »unendlich verlassen und allein«. »Das waren doch alles Fremde für mich. Meine Verstörung bekamen einige Sinti-Frauen mit. Sie holten Wanda.« Die junge Frau war ein sogenannter Funktionshäftling, also auch eine Gefangene, die von der SS für bestimmte Aufgaben »eingesetzt« wurde, was in der Regel einherging mit etwas besseren Haftbedingungen, aber keine Gewähr für das Überleben war. – Wanda Fischer, so ihr Name, sagte zu Else: »Komm jetzt mit.« Das machte das Mädchen. Sie sei weder ängstlich noch zutraulich gewesen. »Ich fühlte nichts. Ich war in einem ganz tiefen Schockzustand. Wanda nahm mich mit in ›ihre‹ Baracke. Sie kümmerte sich um mich. Ohne die Hilfe von Wanda hätte ich nicht überlebt. Schon alleine der Schock hätte mich getötet. Im Lager Birkenau traf ich auch meine leiblichen Geschwister, die ich wissentlich zuvor noch nie gesehen hatte.«

      Am 2. und 3. August 1944 wurde das »Zigeuner-Familienlager« mit der Ermordung von 4.200 bis 4.300 Kindern, Frauen und Männern »aufgelöst«.22 Else wurde zusammen mit ihrer zweijährigen leiblichen Schwester Rosemarie einige Stunden zuvor am 2. August im Viehwaggon nach Ravensbrück transportiert. »Nur wir beide blieben am Leben. Meine anderen Geschwister und meine Mutter wurden, wie ich später erfahren habe, alle ermordet.«

      Else, alle Kinder und Jugendlichen in Auschwitz befanden sich Tag und Nacht in höchster Alarmbereitschaft. Sie wussten: Jedes Verhalten konnte drakonische Strafen nach sich ziehen, konnte den sofortigen Tod bedeuten. Alle wussten: Du musst mächtig auf der Hut sein! Das wusste auch der 15-jährige EDUARD KORNFELD, der im Sommer 1944 aus dem slowakischen Veľký Meder nach Auschwitz-Birkenau verschleppt wurde. Als er den Viehwaggon an der Bahnrampe im Lager Auschwitz-Birkenau verlassen hatte, »stand da die SS mit Gewehren und Hunden«. Es sei alles »so organisiert« gewesen, dass er sich nur auf sich selbst habe konzentrieren können. Er habe »höllisch« aufpassen müssen, was passieren würde. Zudem war er »extrem eingeschüchtert«. Das Unwahrscheinliche geschah: Er wurde für die »gute Seite« bei der Eingangsselektion bestimmt. Eduard Kornfeld fragte sich zeit seines Lebens: »Warum bin ich nicht sofort ins Gas geschickt worden? Ich war doch einer der Jüngsten im Waggon! Vielleicht weil ich verhältnismäßig groß war? Oder weil ich damals noch blonde Haare hatte?« Dazu hellblaue Augen.

      Judith Rosenbaum wurde mit ihrer Zwillingsschwester Ruth Anfang Juni 1944 aus Ungarn in das Vernichtungslager deportiert. Beide erlebten die Befreiung. Ruths Füße, erfroren vom Strafestehen im Winter, mussten amputiert werden. Ruth starb am 23. März 1945.

      Während der üblichen Aufnahmeprozedur in einem der »Sauna«-Gebäude wurden sie am ganzen Körper rasiert: »Sie rissen die Haare mehr aus, als dass sie rasierten, zogen brutal am Geschlecht.« Einige von ihnen bluteten. Von anderen Häftlingen, die schon länger im Lager waren, wurde dem Jungen eine Hose, eine gestreifte Jacke, eine Mütze zugeschmissen. Aber keine Unterwäsche. Nur die eigenen Schuhe durfte er behalten. Einer von ihnen sagte: »Entschuldigung, die Hose ist zu klein!« – »Als Antwort bekam er einen Peitschenschlag vom SS-Mann. Daraufhin fingen wir an, die Anziehsachen untereinander zu tauschen. Nackt und schweigend. Nur wenige Minuten hat das gedauert. Trotzdem wurde weiterhin wild auf uns eingeprügelt. Das war also Auschwitz-Birkenau.«

      Ihre Aufgabe vom frühen Morgen bis zum Abend sei gewesen: »›Mützen auf – Mützen ab, Antreten‹ – Schläge – ›Kniebeugen‹ – ›Auflösen‹ – Schläge. Immer wieder, zehnmal, zwanzigmal … Immer auf derselben Stelle. Oft stundenlang. Tag für Tag.« Zweimal am Tag mussten sie bei jedem Wetter draußen »diese Prozedur, diese Appelle« über sich ergehen lassen. Ob die Sonne brannte, es regnete oder bitterkalt war, spielte keine Rolle. Hinzu kamen »Probeappelle«, die auf Anhieb klappen mussten oder es setzte »fürchterliche Schläge«.

      Miteinander gesprochen haben sie nur, wenn sich niemand mit ihnen beschäftigte. »Sonst war das verboten.« Der Junge wusste intuitiv immer schon, wer vor, neben oder hinter ihm stand. Das war überlebenswichtig. »Viele starben sehr schnell an Hunger. Auch in unserem Block. Tagein, tagaus musste ich das mit ansehen.« Als Eduard schon ein paar Tage im Lager war, nahm er einen »Riesenkamin« in der Nähe des »Zigeunerlagers« wahr – »aus dem nicht Rauch, sondern Feuer kam«. Irgendjemand erzählte ihm: »Das ist die Bäckerei.« Ein paar Tage später traf er jemanden, den er aus der Slowakei kannte und der ihm erzählte: »Ich bin fast im Kremmi gelandet, habe aber Glück gehabt.« – »Was ist das – Kremmi?« – »Krematorium, weißt du das nicht? Dort werden die Menschen in einer großen Kammer vergast, dann werden sie verbrannt.« – »Hm, ich habe gedacht, das ist die Bäckerei. Ich habe gehofft, dort arbeiten zu können. Ich habe Hunger.«

      Ständig gab es Selektionen. Dann hieß es: »Blocksperre!« Sie mussten sofort, innerhalb von ein paar Minuten, in ihre Holzbaracken verschwinden. Wenig später wurde die Tür aufgerissen: »Antreten!«, schrie ein SS-Mann. Diesmal waren sie »dran«. Eduard war bewusst: »Jetzt geht es um Leben und Tod!« Sie mussten nach draußen und »Appell« stehen. »Mengele und viele SS-Männer mit Maschinengewehren standen schon da.« Zehn Reihen mit ungefähr jeweils 110 bis 120 Jungen waren aus Eduards Block gebildet worden. Fünf Reihen standen auf einer, die anderen fünf Reihen auf der gegenüberliegenden Seite.

      »Alle mussten sich ausziehen. Viel hatten wir ja nicht an. Wir zogen die Jacke aus und ließen die Hose runter. Mengele nahm sich jede Reihe der anderen Seite vor. Aus ungefähr 100 Jungen nahm er jeweils zehn heraus. Die Ausgesuchten durften ihre Sachen nehmen und zurück in die Baracke gehen. Die anderen mussten auf der Lagerstraße antreten und wurden von der SS bewacht. Aber niemand wusste, wer ins Gas geht und wer nicht. Trotzdem wollte ich es herausfinden: ›Wo ist Leben, wo ist Tod.‹ Im Laufe der Zeit bekam ich einen tierischen Instinkt. Ich kam zu dem Schluss, dass diejenigen, die auf dem Weg standen, ins Gas gehen würden. ›Was mache ich jetzt?‹, fragte ich mich. Das war ein ganz fürchterliches, unbeschreibliches Gefühl. Ich beobachtete weiter intensiv die andere Seite. Viele beteten. Jeder, so wie ich, wusste, worum es ging. Mit fünfzehn sterben? ›Ich werde wahnsinnig. Nein! Ich will leben!‹«

      Der Junge wollte »etwas tun«, aber er wusste nicht was. Er versuchte, sich zu konzentrieren, um seine letzten Energiereserven zu mobilisieren. Eduard stand in der vorletzten Reihe. »Und dann: Mengele geht an mir vorbei, nimmt mich nicht heraus. Schon war er bei meinem Nebenmann. In diesem Moment packte mich eine übergroße innere Kraft, ein unbeschreiblicher Lebenswille. Plötzlich drehte sich Mengele noch einmal um, macht diese eine Handbewegung, dass ich heraustreten soll. Noch einen Jungen namens Holzmann wählt er aus meiner Reihe aus. Aus der letzten Reihe niemand mehr.« Und da ist noch eine Szene, die Eduard Kornfeld sein Leben lang mit sich herumtrug: »Das ist mein Bruder«, hat einer angefangen zu weinen. Und weil sein Bruder nicht zu ihm durfte, hat er gerufen: »Ich möchte mit ihm zusammen gehen.«

      Ruth

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