Mama, ich höre dich. Alwin Meyer

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Mama, ich höre dich - Alwin Meyer

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sich auf die äußerste Kante des Waggons setzen und runterspringen können. »Das ging aber wegen des Koffers nicht. Ich hatte Angst, der Koffer würde, wenn ich ihn herunterwarf, hart auf den Boden aufkommen, dabei aufplatzen: und meine säuberlich darin von meiner Pflegemutter liebevoll eingepackte beste Kleidung würde auf den dreckigen Boden fliegen.« Das Mädchen »war voller Angst«, was erwartete sie hier? Niemand half ihr. Schließlich sprach eine Sintizza sie an und sagte zu ihr: »Lass den Koffer stehen.« All die schönen Sachen blieben da, auch die so sehr von ihr geliebten weißen Skistiefel. Später sah sie, wie ein anderes Mädchen diese trug. – Was folgte, waren »Sauna«, Desinfektion und Tätowierung. »Zum ersten Mal sah ich nackte Erwachsene, schämte mich sehr.« Auch Else musste sich splitternackt ausziehen, ihre Kleider auf einen Haufen mit den Kleidern der anderen Entrechteten legen. Nach der Desinfektion suchte sie in dem Kleiderhaufen lange nach den eigenen Sachen, fand sie aber nicht. Nichts bekam sie wieder. Es blieben ihr nur ein durchlöcherter Schlüpfer und ein dünnes Sommerkleid.

      ROBERT JOSCHUA BÜCHLER berichtete über seine Ankunft in Auschwitz-Birkenau im Herbst 1944: »Männer in gestreifter Häftlingskleidung stiegen in den Waggon. Mein Vater stand neben mir bewegungslos in der Mitte des Waggons. Plötzlich flüsterte mein Vater einem der Burschen zu: ›Junge, sag mal, wo sind wir eigentlich?‹ Der Bursche musterte meinen Vater und dann flüsterte er ihm zu: ›Im Konzentrationslager.‹ Mein Vater hielt ihn am Ärmel fest: ›Wie heißt das Lager?‹ Der Bursche schwieg. Er zögerte, doch dann hörte ich ihn in das Ohr meines Vaters flüstern: ›Hast du je von Auschwitz-Birkenau gehört?‹ Seine Hand, die mich hielt, fing an zu zittern. So kannte ich meinen Vater gar nicht.« – Jetzt erinnerte sich Robert: Kurz bevor sie abgeholt wurden, waren Postkarten von zwei jüngeren Brüdern seines Vaters aus dem »Arbeitslager Birkenau« bei ihnen zu Hause angekommen. Während es Juden in Auschwitz sonst verboten war zu schreiben, mussten sie es zu bestimmten Zeiten auf Befehl der SS sogar. Sie mussten sinngemäß schreiben: »Mir geht es gut!« Als Absenderangabe war vorgeschrieben: »Arbeitslager Birkenau bei Neu-Berun.« Der Name Auschwitz sollte nicht vorkommen, auch nicht im Poststempel. Die Karten wurden in Berlin abgestempelt.20 Zur Täuschung der in den Heimatorten noch zurückgebliebenen letzten Juden. Auch sie sollten später nahezu noch alle deportiert werden.

      Die 14-jährige DAGMAR FANTLOVÁ traf mit einem Zwangstransport, in dem sich auch ihre jüngere Schwester und ihre Eltern befanden, am 16. Dezember 1943 in Auschwitz ein. Zu Fuß mussten sie vom Güterbahnhof in Auschwitz nach Birkenau gehen. Es war dunkel. Sie kamen in eine der für Birkenau typischen Holzbaracken, die ursprünglich für 52 Pferde21 konzipiert worden waren, in denen bis zu 1.000 Häftlinge hausen mussten. Dagmar kam in das sogenannte »Theresienstädter Familienlager«. Das Gepäck musste zurückbleiben. »Verschiedene Leute aus dem vorherigen Transport kamen zu uns. Eine Frau wollte, dass ich ihr meinen Pullover gebe. Ich weiß nicht mehr, ob es eine Bekannte meiner Mutter war, aber wir gaben ihr verschiedene Sachen.« Sie mussten in einen anderen Block zum Tätowieren gehen. Als sie dort in einer langen Schlange warteten, kam eine Bekannte zu Dagmars Mutter und sagte: »Wissen Sie schon, dass Frau Reitmanová Witwe ist?« Irena Fantlová erschrak. Es war von ihrem Bruder die Rede. »Aber das hatte die Frau nicht gewusst.« Er war bereits im September 1943 mit einem Transport von Theresienstadt nach Birkenau verschleppt worden.

      Dagmar bekam die Nummer 70788 eintätowiert. Als sie aus der Baracke traten, sagte jemand zu ihnen: »Wer schon eine Nummer hat, der bleibt im Lager.« Sie wussten nicht, was das bedeutet. Danach mussten alle in die »Sauna«. Eine Frau sagte: »Hoffentlich kommt ihr wieder zurück.« Das war unverständlich für die Neuankömmlinge. In der »Sauna« dauerte es lange. Dagmar hatte Durst. »Ich trank aus einem Wasserhahn. Und dann sah ich die Aufschrift: ›Trinken verboten – Seuchengefahr‹.« Sie mussten alles ausziehen. Stattdessen bekamen sie Kleidung, die eher Lumpen glich. Dagmars Mutter »meldete« sich bald nach ihrer Einlieferung ins »Familienlager« zum Austragen der Toiletten-Kübel. Wer das machte, bekam etwas mehr Suppe. »Ich habe ihr mehrmals am Tag geholfen. Das war sehr unangenehm. Aber ich habe es getan.«

      Während es Juden in Auschwitz sonst verboten war zu schreiben, mussten sie es zu bestimmten Zeiten auf Befehl der SS sogar, insbesondere im »Theresienstädter Familienlager«. Sie mussten sinngemäß schreiben: »Mir geht es gut!«, so haben es unter anderem Dagmar Lieblová (geborene Fantlová) und Yehuda Bacon berichtet. Damit versuchten die Nazis die Legende von »der Umsiedlung der Juden« aufrechtzuerhalten. Dagmar schrieb an Fany Holická, das ehemalige Dienstmädchen ihrer Großeltern. Sie unterzeichnete mit »Danka«, ihrem Kosenamen. Die Postkarte blieb erhalten.

      Auch Dagmar musste Postkarten mit unverfänglichem, positivem Inhalt schreiben. Die Schriftstücke wurden von der SS zensiert und im Zweifelsfall nicht versandt. – Die Karte, die Dagmar am 8. Januar 1944 an Fany Holická, das ehemalige Dienstmädchen ihrer Großeltern, schrieb, erreichte die Adressatin und blieb bis heute erhalten: »Wir denken mit Sehnsucht an alle. Was macht Tante Janu Stryhal und Cukrs? Sie sollen oft schreiben, auch Du, liebste Fanynka. Wir erwarten alle Nachrichten mit Sehnsucht. Ich wohne mit Mutti und Ita [Kosename ihrer Schwester] beisammen […]. Auch mit Vater sind wir täglich [zusammen]. Mit Sehnsucht erwarten wir von Janu und Euch allen Nachricht. Recht viele Küsse.«

      LYDIA HOLZNEROVÁ war gerade 14 Jahre alt geworden, als Deutsche sie gemeinsam mit ihrer sieben Jahre älteren Schwester Vera, Mutter Růžena und Vater Emil Ende 1943 nach Auschwitz verschleppte. Freunde hatten ihrem Vater, er war Direktor der Schule von Hronov, einer kleinen Stadt im tschechischen Ostböhmen, vor dem befürchteten Einmarsch deutscher Truppen am 15. März 1939 geraten: »Gehen Sie weg! Bleiben Sie nicht hier!« Darauf hatte Emil Holzer immer wieder gesagt: »Ich kenne die Deutschen. Das ist ein Kulturvolk. Die werden sich schon nicht so schlimm benehmen.«

      In Auschwitz-Birkenau wurde die Familie Holzner auch ins »The-resienstädter Familienlager« getrieben. Lydia klagte ihrer Mutter eines Tages ihr Leid: »Ich habe Hunger.« – »Was soll ich tun? Du weißt, dass ich dir nicht helfen kann. Geh und trink etwas Wasser.« Gegen Abend kam eine Frau auf Lydia zu und schimpfte mit ihr: »Komm nie wieder mit einer solchen Bitte zu deiner Mutter. Sie hat Sorgen genug. Das ist zu viel.« Einmal erzählte die 14-Jährige ihrer Mutter, dass sie gesehen hatte, wie ein verzweifelter Mann »in den elektrischen Zaun ging«. – »Das ist kein Held«, antwortete die Mutter. »Heldentum ist, zu leben und zu überleben.«

      Essnapf aus Auschwitz-Birkenau. Auch für die Kinder gab es ausschließlich Hungerrationen.

      Ihre Mutter, Růžena Holznerová, musste in Birkenau verschiedene Arbeiten verrichten, zu denen ihr sechzigjähriger Ehemann nicht mehr in der Lage war. »Er hat die Verhältnisse in Birkenau kaum ertragen können. Zuerst baute er geistig, dann körperlich ab. Binnen einer sehr kurzen Zeit alterte er zum Greis.« Er wurde im Juli 1944 in Auschwitz vergast.

      Ein Name, der in den Schilderungen der wenigen überlebenden Kinder immer wieder auftaucht, ist FREDY HIRSCH. Er hatte sich schon als Häftling im Lagerghetto Theresienstadt als Leiter der »Jugendfürsorge« für die Kinder eingesetzt. Auch in Auschwitz-Birkenau unternahm er alles, was in seiner Macht stand, um die Haftbedingungen der Kinder zu verbessern. Auf seine Initiative war vor allem zurückzuführen, so haben es unter anderem Dagmar Lieblová und Lydia Holznerová geschildert, dass Kleinkinder unter Aufsicht einiger Frauen im Block 29 und Acht- bis Sechzehnjährige im Block 31 des »Theresienstädter Familienlagers« tagsüber untergebracht werden durften. Von einem »Madrich«, einem Erzieher, waren sie in Gruppen zusammengefasst. Er erzählte ihnen unter anderem Geschichten, brachte ihnen Mathematik bei und sang Lieder mit ihnen. Fredy Hirsch war es irgendwie gelungen, für den Block 31 eine kleine »Bibliothek« einzurichten, obwohl es in Auschwitz verboten war, Bücher zu besitzen. Die Auswahl war sehr klein. Die Kinder lasen die

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