Ich bin, was ich werden könnte. Mathias Wais

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Ich bin, was ich werden könnte - Mathias Wais

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– nämlich die, mit der du ursprünglich angetreten bist. Du bist gar nicht nur für dich selbst auf die Welt gekommen. Du merkst das daran, dass das Erreichte dir jetzt hohl wird, weil es nur dir gilt. Du hattest ursprünglich übergeordnete Ziele und Ideale. In deiner Pubertät hast du dich zunächst bruchstückhaft und vielleicht etwas emotional daran erinnert. Aber dann hast du sie wieder vergessen. Du bist ursprünglich auf die Welt gekommen, weil du einen Beitrag dazu leisten wolltest, dass die Gemeinschaft der Menschen und die Erde sich weiterentwickeln können. Es ist gut, dass du dir dafür in der ersten Lebenshälfte einen persönlichen Ausgangspunkt geschaffen hast. Du hast dir Fähigkeiten erworben, du kannst etwas. Aber jetzt beginnt deine zweite Lebenshälfte, und da brauchst du, um ein sinnerfülltes Leben zu führen, Anschluss an diese Ziele, die über dein persönliches Glück und Weiterkommen hinausgehen.

      Auch diese Hüter-Begegnung muss nicht genau so erlebt werden, wenn man sich ihr stellt. Sie kann einfach eine Horizonterweiterung sein, ein Aufwachen dazu, dass es Wichtigeres gibt als das eigene, persönliche Glück. In der ersten Lebenshälfte, besonders als junge Erwachsene, fragen wir – zu Recht – zunächst: Was hat mir die Welt zu bieten? Jetzt, an diesem Wendepunkt der Lebensmitte, taucht die komplementäre Frage auf: Was eigentlich habe ich der Welt zu bieten? Was kann die Welt von mir erwarten? Womit kann ich mich zur Verfügung stellen?

      Und nun kann man einen elementaren Entschluss fassen, der sich individuell ganz unterschiedlich ausnehmen mag: der Entschluss, sich mit dem, was man hat und was man ist, einzusetzen für übergeordnete Ziele und Ideale. Der Handwerksmeister, der sich einen kleinen Betrieb aufgebaut hat, gibt ihn jetzt auf und geht in ein Rehabilitationszentrum, um Behinderte in einen Beruf einzuführen. Der Arzt verkauft seine florierende Praxis, um am Aufbau des Gesundheitswesens in Indien teilzunehmen. Die Verkäuferin engagiert sich im Dritte-Welt-Laden et cetera. – Aber es müssen auch nicht so programmatische Änderungen eintreten; denn es ist nicht in erster Linie Kühnheit, sondern Entschlossenheit gefordert. Viele meistern diese Lebensmittekrise so, dass sie weiterhin das tun, was sie schon immer getan haben, aber jetzt ein neues, übergeordnetes Interesse damit verbinden. Sie bringen die Entschlossenheit auf, bei einer Sache zu bleiben, auch wenn sie äußerlich nicht so großartig erscheint. Sie haben jetzt, nachdem sie die Phase des Zweifels ausgehalten haben, Zugang zur geistigen Dimension dessen gewonnen, was sie alltäglich beruflich oder privat tun. Vielleicht verbinden sie damit auch gar nicht die großen Ideale, aber sie können jetzt zum Beispiel ihren Mitmenschen neu begegnen, an ihren Kollegen ganz neue, wesenhafte Züge entdecken, vielleicht zunehmend auf den Automatismus von Sympathie und Antipathie verzichten, der unser soziales Leben so unbefriedigend reguliert, und können einen Menschen in seiner Eigenberechtigung anerkennen. – So etwas ist mindestens ebenso wichtig wie das Gesundheitssystem in Indien.

      Dieser Entschluss zum Überpersönlichen, der auf Erden zur Lebensmitte ansteht, antwortet auf den Entschluss, den man einst in der geistigen Welt gefasst hat, als man dort dem »großen Hüter der Schwelle« begegnete. Die Lebensmittekrise ist insofern eine Antwort auf den Entschluss, zur Erde zu kommen. Nach diesem Entschluss hatte man angefangen, sich den irdischen Verhältnissen wieder zu nähern. Dann lebte man sich zunehmend ein auf Erden. Gleichzeitig verlor man aber immer mehr den Anschluss an die geistige Welt. Und jetzt, in der Lebensmitte, in der weitesten Entfernung von der geistigen Sphäre, da entschließt man sich erneut zur Erde, und zwar wiederum zu ihrem überpersönlichen Aspekt, und gewinnt wieder Anschluss an die geistige Dimension.

      Es ist aber nicht so, dass der Fall damit erledigt wäre, dass man, mehr oder weniger bewusst, solche Einsichten hat oder Entschlüsse fasst. Der »kleine Hüter« weicht nun nicht mehr von der Seite, das heißt, ab jetzt ist der Hüter immer dabei, was auch immer man tut und lässt. Ich blicke von nun an, bei allem, was ich tue, auch immer auf das, was ich noch nicht kann, was mir nur unzureichend gelingt, wo ich mich weiterentwickeln muss, um wirken zu können. Und das wird anstrengend. – Auch das Element, Entschlüsse fassen zu müssen, bleibt bestehen. Während sich nämlich in der ersten Lebenshälfte die Dinge meistens noch von selbst ergeben, Freundschaften, berufliche Werdegänge, Interessen, so muss ich das jetzt alles bewusst und mit Willen angehen. Zum Beispiel ergeben sich neue Freundschaften nach der Lebensmitte meist nicht mehr mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie zuvor. Jetzt entsteht Freundschaft eigentlich nur noch, wenn ich das will und bewusst herbeiführe. Ich muss jetzt bewusster auf andere Menschen zugehen. War ich früher noch wie getragen von den Umständen, so muss ich mich jetzt selbst tragen, sonst resigniere ich über die Kümmerlichkeit des Daseins. Der junge Mensch kann immer noch die Hoffnung haben, dass es besser wird. Jetzt muss ich es selbst besser machen, damit es besser wird. Insofern bin ich Herr meines Schicksals geworden. Es liegt jetzt in meiner Hand, worauf es mit mir hinausläuft. Man muss sich jetzt gezielt Gedanken machen, aus welchen Quellen man seine Zukunft gestalten will.

      Das ist bis ins Körperliche festzustellen. Liegen nicht besondere Krankheiten vor, so erlebt man vor der Lebensmitte seinen Körper nicht. Jetzt aber lastet er zunehmend schwer. Mit etwa achtundzwanzig Jahren fängt der rein physische Abbau an – übrigens fängt er im Gehirn an –, und jetzt muss bewusst etwas für den Erhalt des Körpers, für Gesundheit und Beweglichkeit getan werden, sonst wird der Körper schnell zur Last und schränkt ein. Und seelisch ist das eben auch so. In den Jahren nach achtundzwanzig kann ein seelischer Abbau im Sinne einer um sich greifenden Perspektivlosigkeit beginnen, wenn nicht aktiv Perspektiven erarbeitet werden – und zwar solche, die über das hinausführen, was die eigene konkrete Person belangt.

      Wie der Körper ab der Lebensmitte eine Sklerotisierungstendenz zeigt, eine Tendenz zu versteifen und zu verhärten, so ist es auch im Seelischen. Man muss etwas für seine seelische Beweglichkeit tun, aber eben nicht nur während der Lebensmittekrise, sondern ab jetzt immer. Und die Grundgeste dieser Beweglichkeit ist es, über sich selbst hinauszugehen, ein herzliches Interesse für all das zu entwickeln, was nicht Ich ist. Es geht jetzt um eine kontinuierliche Selbsterziehung.

      Hier hat auch seinen eigentlichen Platz, was in den letzten Jahren als Biographieberatung bekannt geworden ist. Biographieberatung geht, wie bereits erläutert, nicht von der Frage aus: Wie hätten Sie Ihr Leben denn gerne? Vielmehr: Wie ist Ihr Leben geworden, und wie können Sie es jetzt sinnhaft weiterführen? Wie können Sie innerhalb des Rahmens, der in der ersten Lebenshälfte entstanden ist, so an sich arbeiten, dass Sie Anschluss an die Dimension des Geistigen, des Sinnhaften gewinnen? Biographieberatung kann eine solche Anleitung zur Selbsterziehung, zum übenden Umgang mit sich selbst sein, so wie das ab der Lebensmitte angebracht ist.

      Einige einfache Beispiele für solch einen Übungsweg seien hier angedeutet: Man kann sich etwa vier Wochen lang jeden Abend kurz darauf besinnen, wenn man den Tag abschließt, was heute wesentlich und was heute nicht so wesentlich gewesen ist. Man kann sich das jeden Abend mit ein paar Stichworten aufschreiben. Macht man diese Übung, kommt man zu einem überraschenden Ergebnis: Es gibt nichts Unwesentliches. Was mir zunächst unwesentlich erschienen ist, erweist sich bei näherer Betrachtung eigentlich als ein kleines Versäumnis meinerseits.

      Da ist er also schon wieder, der kleine Hüter. Dass ich heute morgen über den Staubsauger meiner Putzfrau gestolpert bin, scheint zunächst ein unwesentliches Ereignis zu sein. Aber wenn ich es genau betrachte, sagt es mir, dass ich die Arbeit der Putzfrau nicht ernst nehme und herumlaufe, als wäre sie gar nicht da. Ich habe kein Bewusstsein dafür, dass sie anwesend ist. Also nächste Woche, wenn sie wiederkommt, werde ich sie ansprechen und versuchen, ihre Arbeit bewusst wahrzunehmen.

      So banal ist das mit der übergeordneten Dimension. Es geht nicht darum, in der Lebensmitte große Fahnen aufzurollen und aus dem Fenster zu hängen, sondern darum, da, wo man steht – oder, wie in dem Beispiel, wo man stolpert –, sich ganz auf das einzulassen, was vorliegt. Dadurch wird, was da ist, erst vollständig, erfüllt sich und gewinnt geistige Substanz.

      Eine andere Übung könnte sein, das Alte neu zu tun. Statt also in der Lebensmittekrise alles hinzuwerfen und das Ticket nach Australien zu kaufen, könnte man sich systematisch damit beschäftigen, all das neu anzusehen und neu zu greifen, was man schon immer tut. Dazu ist es sinnvoll, kleine Gewohnheiten,

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