Ich bin, was ich werden könnte. Mathias Wais
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Wir können, um beim Thema Trennung zu bleiben, in einer Biographie nach weiteren Trennungs- und Verlusterlebnissen suchen und dann oft ein bestimmtes Zahlenverhältnis, einen »Rhythmus« zwischen diesen Ereignissen finden. Die Zahlenwerte eines solchen Rhythmus können dann vielleicht einen Hinweis darauf geben, worauf die betreffende Individualität mit dem Trennungsthema in ihrem Leben hinaus will. Die Zahlenwerte können etwas sagen über den »Sinn«, den solche Trennungen für diese Person haben. Und dieser ist eben ein jeweils anderer – je nachdem, ob die Trennungen alle vier, alle neun Jahre stattfinden et cetera.
Abschließend und dem übernächsten Kapitel schon vorgreifend sei noch zu bedenken gegeben, dass der besonders unter Anthroposophen bekannte und beliebte Siebener-Rhythmus ein Rhythmus anderer Art ist als etwa der Fünfer-, Zehner- oder Zwölfer-Rhythmus. Denn die Jahrsiebte sagen etwas über Zeiträume aus, die nach Erlebnis und Aufmerksamkeit unter einem bestimmten Thema stehen. Rudolf Steiner hat die Qualität dieser jeweils etwa sieben Jahre umfassenden und – bis zur Lebensmitte – durch einen biologischen Entwicklungsschritt abgeschlossenen Zeiträume mehrfach umfangreich beschrieben.10 Aus seinen Beiträgen geht hervor, was auch die einfache Beobachtung von Lebensläufen zeigt: Der Siebener-Rhythmus verweist auf Erlebnisqualitäten, Wahrnehmungsqualitäten, die sich aus der natürlichen Entfaltung und biologischen Entwicklung des Menschen ergeben. Etwas ganz anderes sind die in diesem Kapitel beschriebenen Zeitverhältnisse der Ereignisse zueinander. Der Sechzehner-, Zehner- oder Achter- Rhythmus sagt etwas über Zeitpunkte, zu denen bestimmte Ereignisse eintreten, die im Zusammenhang mit einem Lebensthema stehen und deren Abstand, in Jahren ausgedrückt, diesen sinnhaften Zusammenhang charakterisiert.
Die Rhythmen betreffen den inneren, sinnhaften Zusammenhang äußerer Ereignisse. Ihr Auftreten hängt ganz von der individuellen Gestaltung einer Biographie ab. Sie müssen auch gar nicht auftreten, und meist ist es nur ein Rhythmus. Dagegen gilt das Gesetz der siebenjährigen Entwicklungsschritte für alle Biographien, auch wenn es oft von einer Reihe anderer, vor allem individueller Faktoren, überlagert ist. Anders wäre das Trennungs- und Verlustthema wahrscheinlich überbeansprucht, wenn zwar Trennungen und Verluste in der Biographie auftreten – es gibt sie wohl in den meisten Biographien –, aber kein Rhythmus zwischen ihnen zu entdecken ist.
Diesen Bereich kann man nicht mechanisch handhaben. Vor allem geht es hier nicht um eine pauschale Zahlenmystik, die das »Vorkommen« bestimmter Zahlen untersucht und deutet: XY hat in einem Haus mit der Nummer 6 gewohnt, seine Frau hat ihn sechs Jahre nach der Heirat verlassen, und die Freundin seiner Tochter besitzt sechs Meerschweinchen. Das muss doch etwas bedeuten! Nein, das bedeutet nichts. Denn es werden dabei willkürlich aus allen möglichen Lebensbereichen, die gar keinen sinnhaften Zusammenhang haben, Zahlen zusammengestellt. Und weil man solche Zahlen vorfindet, interpretiert man den sinnhaften Zusammenhang oder wenigstens eine »Bedeutsamkeit« hinein.
Die Zeit- und Zahlenstrukturen, wie sie in der Biographik Beachtung finden, bestehen zwischen Ereignissen. Sie sind nie selbst schon Ereignis – schon gar nicht als Hausnummer oder Anzahl von Meerschweinchen. Und die Ereignisse, zwischen denen sie erkennbar werden, müssen sinnhaft zueinander in Verbindung gebracht werden können. Sonst gerät man damit in willkürliche und unverbindliche Spielereien. Denn natürlich würde man in jeder Biographie für jede Zahl einen Rhythmus finden, der irgendwelche Ereignisse miteinander verbindet. Man wird vielmehr nach Wendepunkten suchen, nach Neuanfängen und dergleichen. Wenn überhaupt, dann setzt die rhythmische Strukturierung der Biographie an solchen Ereignissen an.
Das Höhere Ich individualisiert die Biographie unter anderem dadurch, dass es zwischen den einzelnen Ereignissen durch Rhythmisierung ihres Auftretens einen Zusammenhang herstellt. Das Individuelle liegt zwischen den Ereignissen; es liegt darin, wie sie aufeinander bezogen sind – nicht in den Ereignissen selbst.
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Die Lebensmitte und ihre Krise
Das Lebensmitte-Thema ist in besonderer Weise geeignet, die geistige Herkunft des Menschen zu bezeugen. Wir können auf diese Herkunft unter anderem daraus schließen, dass der Mensch Ideale hat, Ziele und Strebungen verfolgt, die nicht von dieser Erde sind. Die Ideale meinen etwas, das es auf ihr gar nicht gibt, das es aber geben sollte. Sie sprechen von einer geistig-göttlichen Weltordnung, der die Erde sich so weit wie möglich nähern soll. Jeder von uns hat, mehr oder weniger bewusst oder ausformuliert, solche Ideale. Und viele von uns streben auch ihre Verwirklichung an.
Ein charakteristisches Merkmal der Ideale liegt darin, dass sie nicht nur oder nicht in erster Linie ihren Träger, das einzelne Individuum, meinen, sondern die Menschengemeinschaft und die Erde als ganzes. Ideale haben also eine überpersönliche Dimension. Das unterscheidet sie von persönlichen Wünschen. Ich kann mir ein neues Auto oder Stressfreiheit im Beruf wünschen – das ist sicher legitim, aber es liegt darin nichts Geistig-Göttliches, dessen Merkmal immer die übergeordnete, über das persönliche Glücksstreben des einzelnen hinausgehende Perspektive ist. Das Geistig-Göttliche hat stets das Ganze im Auge, das Ganze der Menschheit, das Ganze der Erdentwicklung. Und etwas davon leuchtet darin auf, dass wir Ideale haben und deren Verwirklichung anstreben.
Wenn es aber richtig ist, dass der Mensch einen geistigen Wesenskern hat, dass etwas in ihm ist, das sich aus dem, was er physiologischbiologisch ist, nicht ableiten lässt, dann muss dieser Wesenskern irgendwoher kommen und nach dem physischen Tod des Menschen irgendwohin gehen. Dies weist auf eine geistige Sphäre hin, in der jener Wesenskern sich vor der Geburt aufhält und aus der er das mitbringt – wie eine Art Erinnerung –, was dann auf Erden ein Ideal ist.
Bringt der Mensch Ideale und übergeordnete Ziele aus der geistigen Welt mit auf die Erde, wo sie nur sehr unvollständig zur Geltung gebracht werden können, dann erhebt sich die Frage, warum kommt der Mensch eigentlich auf die Erde? Warum bleibt er nicht in der geistigen Welt, in der er diesen Idealen begegnet und wo sie offenbar eine Wirklichkeit haben? Dort haben sie offensichtlich ihre Heimat, während das irdische Leben doch in weitgehendem Widerspruch zu ihnen steht. Warum bleibt der Mensch nicht »da oben«, wo es keine Umweltverschmutzung, keine Steuererhöhungen, kein Bundesbahndefizit, keine Ausbeutung und keine Strafzettel gibt? Wäre er nicht besser beraten, dort die Ideale zu leben, statt die ganze Mühsal und Frustration eines irdischen Lebensgangs auf sich zu nehmen?
Es muss irgendwann in der Zeit, die der hier beschriebene Wesenskern eines Menschen in der geistigen Welt verbringt, so etwas wie einen Entschluss geben, sich den Strapazen eines irdischen Lebens erneut zu stellen. Und dieser Entschluss muss etwas damit zu tun haben, dass es in dieser Zeit wohl einen Moment gibt, in dem er den persönlichen, eigenen, individuellen Beitrag erkennt, den er zur Verwirklichung der Ideale auf der nicht-idealen Erde leisten könnte.
In fast allen Kulturen und Religionen außerhalb der offiziellen monotheistischen Kirchen lebt die Vorstellung, dass nach dem Tod die Seele ihre auf Erden gemachten Erfahrungen verarbeitet, indem sie diese den Wesen vorlegt, die ausschließlich in der geistigen Sphäre leben. Daraus muss eine Art Einsicht darüber entstehen, was während der Erdenzeit versäumt wurde in der Mitarbeit an den geistig-göttlichen Weltenzielen. Aus diesem Anschauen der Versäumnisse muss sich für die Seele eine Art Schwelle, ein Wendepunkt ergeben, der sie dazu herausfordert, es wiederum zu versuchen – mit der Erde und mit sich selbst. Rudolf Steiner nennt diesen Wendepunkt die »Begegnung mit dem großen Hüter der Schwelle«. Sie liegt in der Mitte der Zeit, die die Seele zwischen