Ich bin, was ich werden könnte. Mathias Wais

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Ich bin, was ich werden könnte - Mathias Wais страница 7

Ich bin, was ich werden könnte - Mathias Wais

Скачать книгу

sie wiederholt werden. Niemand wiederholt so etwas. Es handelt sich um den einmalig als notwendig erkannten Schritt, seine Durchführung und das darauf folgende Empfinden, einen Schritt in Richtung Ganzheit gemacht zu haben. Er ist nicht beliebig wiederholbar, weil diese Dinge in die gesamten Lebensumstände so eingebettet sind, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt als notwendig erkannt werden – und dann auch in die Tat umgesetzt werden müssen.

      Während man die Realisierung von Wünschen verschieben kann, kann man die neue Tat nicht verschieben: Wenn es heute nicht reicht ins Freibad, gehe ich eben morgen. Habe ich aber einmal die Notwendigkeit erkannt, einen Dauerstreit mit einem Nachbarn zu beenden, weil mir mein eigener Anteil daran deutlich geworden ist, so kann ich das nicht verschieben. Der Urbild-Impuls entfaltet seine Kraft im Moment des Auftretens und verliert sie, wenn ich lieber erst noch dieses und jenes erledige. Für den Phlegmatiker kann der Impuls, Fechten zu lernen, das heißt, sich in zielgerichteter, kontrollierter und geistesgegenwärtiger Aggression einzuüben, aus seinem Urbild kommen – ein solcher übender Umgang mit sich selbst würde ihn vervollständigen, das heißt dazu beitragen, dass er ganz auf die Erde kommt. Und wenn er die Einsicht einmal hat, wird er sich sogleich anmelden. Der Impuls aus dem Höheren Ich, der im Bewusstsein als willensbetonte Einsicht erscheint, richtet sich immer auf etwas Ungeahntes, etwas nicht Selbstverständliches, auf etwas, das einem eigentlich, das heißt vom Alltags-Ich her gesehen, gar nicht liegt, das man aber als notwendige Ergänzung der eigenen Person erkannt hat.

      Im künstlerischen Schaffen ist man den Impulsen des eigenen Urbildes in besonderer Weise nahe. Der Künstler bemüht sich nicht primär um das, was er kann, sondern um das, was er noch nicht kann. Sein Ringen um Ausdruck ist immer eine Suche nach Steigerung und Verwesentlichung. Er will über das hinaus, was er schon gemacht hat. Damit stellt er sein Werk und seinen Lebensgang in besonderer Weise unter die Gestaltungsmacht seines Urbildes.2

      2. Indem mein Höheres Ich auch auf die menschlichen und zwischenmenschlichen Zusammenhänge meiner Umgebung einstrahlt und offenbar auch in die äußeren Abläufe, kommt es mir als mein Schicksal von außen entgegen. Ereignisse, bestimmte Konstellationen, das Verhalten anderer Menschen mir gegenüber – all dies enthält auch Aufgaben, Herausforderungen und Impulse für mich. Eine andere Frage ist es, ob ich das erkenne und aufgreife. Wenn ich es nicht aufgreife, bleibt das, was um mich herum geschieht, Zufall. Wenn ich es erkenne und aufgreife, dann lasse ich es mir zufallen und nehme es als meines an.

      Auch hier muss man nicht in schlechthin allem, was einem begegnet, das eigene Höhere Ich am Walten sehen. Man entwickelt seine diesbezügliche Wahrnehmungsfähigkeit am besten, wenn man sich in die Haltung einer Bereitschaft, sich von menschlichen Ereignissen und sachlichen Abläufen etwas sagen zu lassen, begibt. Es sind vor allem die Situationen und Schicksalsumstände, an denen ich mich stoße, die ich nicht ohne weiteres meistere, die ich vielleicht sogar loshaben möchte, in denen sich etwas von meinem geistigen Wesenskern ausspricht.

      Und es spricht sich das Höhere Ich immer als Aufforderung aus. Angenommen, ich läge seit Jahren mit meinem Grundstücksnachbarn in einem erbitterten menschlichen und juristischen Streit, weil er nach meiner Meinung seinen Gartenzaun 5 cm zu weit auf mein Grundstück gesetzt hat. Ich kann nun sagen, das ist ein dummer Zufall, dass ich einen solchen Knülch als Nachbarn habe. Ich kann aber auch fragen: Welche Aufforderung liegt für mich in diesen Vorgängen? – statt nur den Blick darauf zu richten, was diese Vorgänge vielleicht über den Nachbarn aussagen. Was sagen sie für mich aus? – Und ich könnte, im Rahmen dieses Beispiels, vielleicht dahin gelangen zu erkennen, dass ich selbst in meinem Wesen dieses ausbreitende und raumgreifende Element habe, das mich hinsichtlich des Gartenzauns an meinem Nachbarn so nervt. In dieser Angelegenheit stoße ich mich also an einem Teil meines Alltags-Ich. Das so herbeigeführt zu haben, dass ich es nun hören kann – darin liegt ein Wirken meines Höheren Ich. Und ich kann nun prüfen, wo ich generell in den Willen anderer Menschen eingreife, und kann lernen, mehr auf die Belange derer zu achten, die mit mir zu tun haben, statt mich nur selbst faszinieren zu lassen von meinem eigenen starken Willensleben.

      Aber es geht hier nicht um Zeichendeuterei. Schließlich ist nicht schlechthin alles, was passiert, eine Botschaft an mich. Im beschriebenen Sinne schicksalsverdächtig sind Umstände, die entweder eine entnervende Zähigkeit an den Tag legen – Monate und Jahre verfolgt mich das gleiche Ärgernis – oder sich hartnäckig wiederholen. Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass ich die Aufforderung noch nicht verstanden habe. – Im Gartenzaun-Beispiel: Nach Jahren gebe ich auf, verkaufe Haus und Grund und baue woanders eine neue Existenz auf. Mit Sicherheit bricht nach kurzer Frist ein ähnlicher Streit los, diesmal um eine Garagenzufahrt.

      »Das Schicksal« ist in solchen Dingen sehr geduldig. Es kann, wenn ich nicht »höre«, auch zehnmal solche Situationen herbeiführen – bis ich verstanden habe.

      Insgesamt also führt das Höhere Ich Begegnungen herbei, Gelegenheiten, Umstände, innere und äußere Krisen. Natürlich sind diese Impulse auch verwoben mit den Bestrebungen der Höheren Iche anderer Menschen und eingebettet in übergeordnete Bestrebungen und Vorgänge. In Kapitel 7 soll dieser Aspekt ausführlicher dargestellt werden.

      3. Das Höhere Ich spricht bereits zu dem gerade entstehenden, noch ungeborenen menschlichen Wesen. Es ist ein schönes Bild, dass die Haltung des Embryos im Mutterleib die Form eines Ohrs annimmt. Der werdende Mensch »hört« auf sein Höheres Ich, das dadurch an seiner Leiblichkeit mitbildet – längst bevor es auf die Seele, das Denken und Wollen des Betreffenden einwirken kann. Durch diesen Vorgang wird die physische Individualisierung erst möglich, denn die leibliche Grundausstattung ergibt sich ja aus dem Erbstrom. Am deutlichsten wird dies am Gesicht. Es ist der individuellste Teil der Leiblichkeit. Dass man ein Gesicht unter tausenden von Gesichtern wiedererkennt, obwohl es andererseits den Eltern und Geschwistern des Betreffenden ähnlich sein mag, ist Ausdruck dessen, dass das Gesicht ein absoluter Abdruck der Individualität ist.

      Es ist anzunehmen, dass sich in weiterer Zukunft auch die übrigen Teile des Leibes immer stärker individualisieren werden. Je kräftiger das hereinstrahlende Ich ist, um so individueller kann die Leiblichkeit werden.3

      Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, ob jemand dick oder dünn, groß oder klein ist; wie er in seinem Leib steckt, wie er sich des Leibes bedient, wie er sich mit ihm bewegt – darin liegt etwas von seinem Urbild. Es gibt deshalb auch das Erkennen der Individualität eines Menschen an seinem Leib. Im besonderen ist es – bei einem primär auf den Partner gerichteten Interesse – der Sexualität gegeben, in ihr ein Urbilderlebnis vom anderen haben zu können.

      In dieser besonderen Nähe des Höheren Ich zur Leiblichkeit, zu ihrer Gestalt und ihren physiologischen Vorgängen, liegt auch die intime Verbindung mit ihrer Gesundheit und Krankheit. Tagsüber ist das Verhältnis zur Leiblichkeit stark vom Alltags-Ich, von der seelischen Befindlichkeit geprägt. Schon das kann sich, über die Brücke der Psychosomatik, körperlich auswirken. Aber nachts, im Schlaf, ist das Alltags-Ich abwesend, und dann kann das Höhere Ich den Leibesvorgängen Impulse geben, die über aktuelle Gestimmtheiten hinaus grundsätzliche Individualisierungsmöglichkeiten vermitteln.4 So sind zum Beispiel chronische Krankheiten oder langfristig sich anbahnende Krankheiten, aber auch Beeinträchtigungen durch Unfälle oder Überbelastung darauf zu befragen, ob sie Individualisierungsaufforderungen enthalten, die offenbar anders nicht gegeben werden konnten.

      Das Höhere Ich steckt also voller Impulse, ist selbst Impuls. Seine Substanz ist Aufbruch. Andererseits ist deutlich, dass wir nur das wenigste davon verwirklichen. Auch daraus ergibt sich die These von den wiederholten Erdenleben: Die diesmal nicht verwirklichten Impulse und Entwicklungsmöglichkeiten bringt man das nächste Mal wieder mit, wahrscheinlich in etwas veränderter Form. So hat man die Entwicklungschancen auch über dieses Erdenleben hinaus. Welche Geduld des Schicksals!

      Das Wesentliche unserer irdischen Existenz scheint sich aus dem ständigen Aufgespanntsein zwischen Geistnähe und Geistferne zu ergeben, zwischen Höherem Ich und Alltags-Ich. Liebe und Freiheit können

Скачать книгу