Ich bin, was ich werden könnte. Mathias Wais
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Damit hängt ein zweites Unterscheidungskriterium zwischen Alltags-Ich und Höherem Ich zusammen: Die Wandlung ist nicht einfach Veränderung. Der jugendliche Zorn wurde unter mancherlei und großer Anstrengung, in Selbstüberwindung und in vielen Momenten des Aufraffens und der Selbsterkenntnis zur Milde gewandelt. Es wird nicht einfach nur so, von allein, etwas anderes daraus. Das Neue, das aus dem Alten entsteht, ist immer errungen.
Dagegen ist Merkmal des Alltags-Ich entweder die Beharrung bis zur seelischen Sklerose oder die beliebig erscheinende Veränderung: Heute studiere ich Kunst; letztes Jahr war ich auf dem Erzieherseminar; nächste Jahr mache ich eine Weltreise, und danach werde ich Mutter einer zahlreichen Kinderschar sein. – Auch das ist Alltags-Ich, denn die Veränderungen sind nicht errungen, sondern ausgedacht oder herbeigefühlt. Dahinter ist wieder die Neigung zum Beharren des Alltags-Ichs zu erkennen: Ich will bei meinem Selbstbild (beim künstlerischen Menschen mit tausend Möglichkeiten) bleiben. Würde ich mich auf nur eine der vielen Situationen, die ich für mich für möglich halte, einlassen, bestünde die Gefahr, dass ich meine Grenzen, meine Begrenztheit kennenlernte. Und das erst wäre, in diesem Zusammenhang, der Beginn einer eigentlichen Wandlung.
Die Biographieberatung erstrebt eine Art Imagination des Höheren Ichs des Ratsuchenden. Diese wird so nie Wirklichkeit werden, aber sie wird die Wirklichkeit immer mehr in ihren gestaltenden Griff nehmen können. Das Höhere Ich ist ein Tatwesen. Es sucht nie die Sicherheit und Gewöhnung, sondern die wandelnde Tat. Und darin liegt die Chance der Biographieberatung, die im vorangegangenen Kapitel als eine Art Entwicklungshilfe beschrieben wurde. Der zu Beratende wird zu immer sehr einfachen Wandlung freisetzenden Taten angestiftet: Gewohnheiten vorübergehend ändern, Unsicherheiten gezielt aufsuchen, die Dinge unter neuer Perspektive anschauen und dergleichen mehr.
Das Höhere Ich kann man inhaltlich nicht so bestimmen, wie man das Alltags-Ich eines Menschen bestimmen und beschreiben kann. Sein Wesen ist Aufbruch. In gewisser Weise gibt es das Höhere Ich jetzt noch gar nicht. Es ist immer das, worauf das Schicksal erst hinauswill. Das Höhere Ich hat nicht Eigenschaften, die man etwa irgendwie psychologisch messen könnte. Seine Substanz ist Aufbruch.
Wie aber kann man dann versuchen, sich ein Bild vom Höheren Ich eines Menschen zu machen?
Wir erkennen den Wesenskern eines Menschen an seinem Werden, an seinen zu Neuem aufbrechenden – inneren oder äußeren – Taten. Was wagt er? Was lebt in ihm über das hinaus, was er geworden ist und schon kann? Das Höhere Ich kann man, um es etwas pointiert auszudrücken, geradezu als das Gegenteil dessen bezeichnen, was jemand schon geworden ist. Ein erstes Bild entsteht deshalb näherungsweise, indem man das, was jemand ist, was man als sein Alltags-Ich kennt, umdreht. Denn das Geistige ist in gewisser Weise immer eine Art Umkehrung dessen, was irdisch-sinnlich erscheint.1 Ist also jemand in seinem Alltags-Ich zum Beispiel sanguinisch bis chaotisch, dann kann sein Urbild damit zu tun haben, dass er sich das Gegenteil – hier also Klarheit, Systematik und Verbindlichkeit – dazu zu erarbeiten sucht, um vollständig zu werden.
So zu sprechen, heißt nicht, das Alltags-Ich gering zu achten. Das Alltags-Ich ist notwendig wie der physische Leib; es ist eine Art Kleidung für das Höhere Ich. Es kann überzeugend und schön sein, wie ein Leib, wie die Kleidung überzeugend und schön sein können. Das Höhere Ich kann gar nicht in reiner Form auf Erden anwesend sein. Und es würde diesen Zustand auch nicht wollen. Das verwirklichte Höhere Ich als irdische Situation wäre sinnlos.
Es hängt mit diesem »Prinzip des Gegenteils« zusammen, des »Umdrehens«, dass die Krise genau die Lebenssituation ist, in der etwas vom Höheren Ich hindurchtönt. Wenn das Alltags-Ich nicht mehr trägt – in der aufgelassenen Situation, in der vom Alltags-Ich nicht mehr strukturierbaren Situation, im Chaos –, dann kann das Element des Geistigen, hier in der Gestalt des Höheren Ich, in das Irdische hineinwirken. Das Geistige kann da ansetzen, wo eine irdische Ordnung aufbricht, eine Struktur zerfällt, etwas Gewohntes nicht mehr gilt. Wenn wir uns ihm nähern, uns eine Vorstellung vom Urbild des anderen machen wollen, so ist es sinnvoll, die Krisen und Umbrüche seines Lebens anzuschauen: Womit haben sie begonnen? Worin bestand die Ohnmacht? Und was hat der Betreffende daraus gemacht? – Eine alte Ordnung zerbricht. Für einen Moment ist alles offen. Dadurch werden die Verhältnisse berührbar für eine neue Ordnung, die etwas qualitativ Neues, eigentlich Gegenteiliges hereinbringt. Dazwischen liegt die Grenzsituation. Wenn ein Mensch in großer innerer Not ist, oder wenn man ihn sehr liebt, kann man etwas davon sehen, worauf es mit ihm hinaus will – in Grenzsituationen, in der Liebe. Und der Betroffene selbst – auch er wird wohl erst in Grenzsituationen, in Situationen der Liebe und im Tod seines eigenen Urbildes ansichtig werden.
Um sich die zentrale Bedeutung des Höheren Ich für den inneren Zusammenhang einer Biographie vor Augen zu führen, ist es sinnvoll, zu einer Modellvorstellung zu greifen, wie sie sich aus dem anthroposophischen Menschenbild ergibt: Das Höhere Ich ist nicht in der Weise im Menschen anwesend, wie es die Gewohnheiten, die Gefühle, das Denken, überhaupt das Alltags-Ich sind. Vielmehr strahlt es eher in den Menschen ein, von außen – von oben, wenn man so will. Es besteht also eine gewisse Distanz zwischen dem Ich, das sich im Alltag als solches erlebt, und dem geistigen Wesenskern des Menschen. Diese Distanz kann variieren. So ist sie gering in den beschriebenen Momenten des Übergangs und Sich-Aufraffens, und sie ist größer in Momenten, die auch in der Psychologie und Psychopathologie als »Ich-Störung« beschrieben werden: im exzessiven Alkoholgenuss, in der Geistesverwirrtheit. Auch in Schockmomenten kann sich das Höhere Ich gegenüber dem Alltags-Ich »lockern«. Außerdem kann diese Distanz auch von Person zu Person variieren; der eine ist seinem Urbild näher, der andere ferner.
Auf diesen Umstand, dass das Höhere Ich von außen in den Menschen einstrahlt, ist seine dreifache Wirkungsweise zurückzuführen:
1. Das Höhere Ich erscheint als Entwicklungsimpuls im Willensleben des Menschen.
2. Indem es von außen oder oben seine Impulse ausstrahlt, werden auch die Menschen, die sich im Umfeld bewegen und entfalten, und die Lebensumstände von dem persönlichen Höheren Ich erfasst. Es erscheint dann als von außen, durch andere Menschen oder bestimmte Lebensumstände zukommendes Schicksal, als mich-berührendes Handeln anderer, als Gelegenheit, als Zufall.
3. Schließlich strahlt das Höhere Ich von Anfang an in den Menschen ein. Deshalb gestaltet sich seine Leiblichkeit von der Zeugung an nicht nur nach dem Erbstrom, sondern auch nach den Gesichtspunkten des Höheren Ich.
Diese drei Wirkungsebenen des Höheren Ich sind noch zu erläutern.7
1. Das Höhere Ich als Entwicklungsimpuls in der Beobachtung des eigenen Seelenlebens: Dieser Gesichtspunkt ist mit Vorsicht zu handhaben. Nicht alles, was Impuls ist, ist schon eine Äußerung des Höheren Ich. Impulse aus dem Höheren Ich gehen immer auf Wandlung und damit auf Verzicht von Sicherheiten und Gewohnheiten. Impulse, die aus dem geistigen Wesenskern kommen, bringen, wenn sie in die Tat umgesetzt werden, immer die Notwendigkeit eines Verzichts mit sich.
Der Impuls, heute ins Freibad zu gehen, ist noch kein Impuls des Höheren Ich. Wünsche solcher Art sind normal und notwendig. Ihre Verwirklichung befriedigt das Alltags-Ich. Impulse aus dem Urbild dagegen sind unbequem für das Alltags-Ich, verlangen Einsatz und Überwindung und führen, wenn sie verwirklicht werden, zu einer auch als solcher empfundenen Vervollständigung der Person.
Wünsche aus dem Alltags-Ich drängen auf Wiederholung: Es war letzten Sonntag so gemütlich im Freibad,