Ich bin, was ich werden könnte. Mathias Wais

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Ich bin, was ich werden könnte - Mathias Wais

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fasste, Troja und Mykene auszugraben. Oft erkennt man erst hinterher, dass in dieser Zeit eigene Lebensziele oder der künftige »rote Faden« in Erscheinung getreten sind.

      Der erste Halbknoten kann auch mit der Verarbeitung einer schweren Krankheit durchlaufen werden, durch die das Ich danach wie freigesetzt, eigentlich erst zu sich gekommen wirkt. So erkrankte Novalis, bis dahin träumerisch und verhangen, im Alter von neun Jahren. Danach aber war er geistig wach und hatte ein Erkenntniserlebnis des Höheren Ich, das, in die Anschauung zu bringen, später Streben und Inhalt seiner Dichtung wurde. Ähnliches lässt sich häufig finden: Eine Krankheit im neunten Lebensjahr setzt zwei Bewusstseinszustände voneinander ab, und der Betroffene macht damit einen entscheidenden Individualisierungsschritt.

      Lebensmotive können im neunten Lebensjahr aufklingen – aber wie auch beim vollen Mondknoten stellt sich dies zumeist als äußeres Ereignis, zumindest als von außen verursachtes Erlebnis dar. So hörte Strawinsky mit neun Jahren zum ersten Mal ein Konzert und war tief berührt – ohne dass er damals schon beschlossen hätte, Komponist zu werden. In derselben Zeit traf er seine spätere Frau. – Auf diese Weise können auch die späteren halben Mondknoten durch eine Begegnung mit dem eigenen Wesenskern geprägt sein, mit eigenen Lebensmotiven. Eine siebenundzwanzigeinhalbjährige Studentin begegnet auf einem Fest einem Brasilianer. Sie ist tief beeindruckt, nicht so sehr von ihm als Person, vielmehr als Botschafter einer ganz anderen Welt. Sie sieht ihn nie wieder, aber Jahre später erhält sie die Anfrage, ob sie bereit wäre, in Brasilien ein Krankenhaus mit aufzubauen – sie war inzwischen Ärztin geworden. Ihre zweite Lebenshälfte lebt und arbeitet sie dort.

      Die Zahl Zwölf steht für Vollständigkeit. Etwas schließt sich zur Einheit, was bis dahin nur in verschiedenen Fragmenten anwesend war. Die Zwölf ist eine Zahl der Abrundung und des gegenseitigen Ausgleichs von Einseitigkeiten. Der erste Zwölfer-Punkt, kurz vor der Pubertät, schließt die Kindheit ab. Die weiteren Zwölfer-Punkte können durch innere Entwicklungsgänge das Fruchtbarwerden des bisher Erlebten bringen. Ideale können hier erstmals oder wieder auftauchen, Sehnsüchte, deren Streben dann in die weitere Zukunft führt. Sozusagen der geistige Gehalt des bisher Erlebten verdichtet sich zu einem Ideal, und zwar in sehr willensbetonter Weise.

      Man findet den Zwölfer-Rhythmus als fortlaufende Struktur selten. Deutlich tritt er auf im Lebensgang der französischen Bildhauerin Camille Claudel. Bei ihr waren durch den Zwölfer-Rhythmus Lebensereignisse aufeinander bezogen, die ihr großes und sehr willenshaft verfolgtes Ideal der Überwindung einseitiger Männlichkeit und Weiblichkeit berührten. Sie wollte in ihrer seelischen Haltung und als Künstlerin beides sein können.6

      In manchen zeitgenössischen Biographien findet sich ein Fünferbeziehungsweise Zehner-Rhythmus. Die Fünf steht für die Polarität der Geschlechter, sie ist eine Krisenzahl. Entsprechend kann sie die Entwicklung einer Beziehung in der Zeit strukturieren. – Auch in der Natur kommt die Zahl Fünf im Zusammenhang mit der Geschlechtertrennung vor. So haben manche Blüten zum Beispiel fünf Blätter. Dagegen erscheint die Fünf im Mineralreich, das keine Geschlechtertrennung kennt, nicht.

      Die Zahl Zehn ist bezüglich der Fünf, der Zahl der Geschlechtertrennung, die Zahl der Ehe, die Zahl der Einheit der Geschlechter im Irdischen. So finden wir Ehen, die an Fünfer-Punkten in eine tiefe Krise geraten, an Zehner-Punkten aber zur Versöhnung finden. Dabei sind die Fünferbeziehungsweise Zehner-Schritte ab dem Zeitpunkt des Kennenlernens der späteren Ehepartner zu rechnen, und die entsprechenden Ereignisse – Krise oder Versöhnung – müssen nicht zu jedem Fünfer- oder Zehner-Schritt auftauchen.

      Weiterhin gibt es noch individuellere Rhythmen. Ein Sechzehnerschritt war bisher nur bei Alexej Jawlensky zu finden, und es kann gezeigt werden, wie intim der geistige Bezug, den die Sechzehn anspricht, mit seinem Werk zusammenhängt.7

      So bedeutsam diese zeitlichen Verhältnisse in den Lebensläufen einerseits erscheinen, so sehr muss andererseits vor Zahlenmystik und -deuterei gewarnt werden. Das Individuelle einer Biographie kann man nicht aus allgemeinen Gesetzen ableiten. Die Entwicklungsgesetze und Zahlenstrukturen sind gleichsam Instrumente, derer sich das Höhere Ich als der Gestalter der Biographie bedient. Das Verhältnis der Gesetze zur Individualität kann man sich vielleicht am besten vor Augen führen, wenn man sich klarmacht, in welcher Weise in einem Gesicht beide Aspekte zum Ausdruck kommen: Der Aufbau eines menschlichen Gesichts unterliegt bestimmten Gesetzmäßigkeiten – zwei Augen, eine Nase in der Mitte darunter, darunter der Mund et cetera. Diese allgemeinen Gesetze erklären aber nicht den individuellen Ausdruck eines Gesichts, das Einmalige. Dieses kommt von woanders her als ein Abdruck des Höheren Ich.

      Es ist sinnvoll, solche und ähnliche biographische Entwicklungsgesetze und Gestaltungsmerkmale, wie hier und im folgenden beschrieben, zu kennen. Sie sind ein Mittel zum Verständnis von Biographien. Zum Erkennen des Individuellen tragen sie aber nur dann bei, wenn man sich bewusst macht, wie eine Person den in dem einzelnen Entwicklungsgesetz liegenden Impuls aufgreift.

      Es bringt auch keinen Erkenntnisgewinn, an jede Biographie, derer man habhaft wird, schematisch den Maßstab eines Neuner-, Zwölfer- oder sonstigen Rhythmus anzulegen. Wichtiger ist die Biographie des Betreffenden als Ganzes. Man versuche zunächst, sich ein erstes und vorläufiges Verständnis der für das Individuum charakteristischen Lebensthemen zu verschaffen, und frage dann erst, ob sich das bisher Erkannte anhand von rhythmischen Strukturen verifizieren lässt, deren Zahlenproportionen wiederum ein genaueres Verständnis der Lebensthemen ermöglichen.

      Das Wesentliche am Verständnis einer Biographie ist, sich ein Bild vom geistigen Wesenskern des Betreffenden aufzubauen, von seinen Zielen, Möglichkeiten und Grenzen. Die Einbeziehung zeitlicher Entwicklungsstrukturen in diesen Verständnis- oder Erkenntnisvorgang hat im Zusammenhang damit nur eine Hilfsfunktion. Es würde zu chaotischen Spekulationen führen, den »Sinn« eines Lebensganges aus bestimmten Zahlen »deuten« zu wollen.

      Überhaupt ist es eine heikle Angelegenheit, mit der »Bedeutung« von Zahlenproportionen umzugehen, die man zu finden meint. Die Versuchung ist groß, eine gefundene Zahlenstruktur in einem der numerologischen Werke nachzuschlagen, die heute zahlreich zur Hand und wohlfeil sind. Sinnvoller ist es, sich mit den geistigen Kräftekonstellationen zu befassen, deren irdischer Name in einer Zahl verborgen sein kann. Hierüber gibt es umfangreiche, aber auch zwielichtige Literatur. Der Autor bevorzugt dazu Werke der jüdischen esoterischen Tradition (heute vertreten durch Friedrich Weinreb) und des anthroposophischen Zahlen-, Mathematik- und Geometrieverständnisses (vertreten zum Beispiel durch Rudolf Bindel). Es kommt auf jeden Fall darauf an, sich in eine Empfindung für die Proportionen einzuleben, die sich in den Zahlen aussprechen.

      Zahlen weisen auf Wechselverhältnisse hin, die zwischen irdischen und sinnlich gegebenen Vorgängen bestehen können. Sie sagen etwas über die Natur eines Sinnzusammenhangs und über die geistige Seite irdischer Zusammenhänge. Weite Felder der Schöpfung sind nach Zahl und Verhältnis geordnet. Zwischen Planetenbahnen bestehen Proportionen, die in Zahlen abgebildet und sogar, in der harmonikalen Musik, zu Gehör gebracht werden können.8 Die Entwicklung des menschlichen Leibes durchläuft numerisch formulierbare Proportionen.9 Was sich in der Zeit entfaltet, bewegt und überhaupt zusammengehört, spricht sich in Zahlenverhältnissen zueinander aus. Auf dem Feld der Musik ist dies vielleicht noch am ehesten erlebbar. Aber auch im Bereich der Biographik entfalten sich die Ereignisse, die ichhaft zusammengehören, untereinander in Zahlenverhältnissen.

      So ist es zum Beispiel ein Unterschied, ob eine Trennung vier oder sieben Jahre, neun oder zwölf Jahre nach dem Kennenlernen geschieht. Die Qualität der Trennungssituation

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