Überlegt impfen. Paul Thomas
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Ich war noch in der Facharztausbildung, als die Hib-Impfung eingeführt wurde. Haemophilus influenzae Typ b ist ein Bakterienstamm, der schwere Infektionen wie Meningitis hervorrufen oder sogar zum Tod führen kann, insbesondere bei kleinen Kindern. Die richtige Diagnose zu stellen, ist bei Meningitis schwer, denn die Symptome ähneln denen der Grippe, die durch verschiedene Influenzaviren hervorgerufen wird. Die einzige zuverlässige Diagnosemöglichkeit ist eine Untersuchung der Rückenmarksflüssigkeit mittels Lumbalpunktion: Im Bereich der Lendenwirbel wird eine winzige Nadel bis in den mit Flüssigkeit gefüllten Duralsack, der das Rückenmark umgibt, eingeführt. Ist die Flüssigkeit klar wie Wasser, hat das Kind keine Meningitis. Ist die Flüssigkeit jedoch trüb, kann das ein Hinweis auf Meningitis sein. Dann wird die Probe zur weiteren Untersuchung eingeschickt und innerhalb weniger Stunden bekommt man vom Labor das Ergebnis der Rückenmarksflüssigkeit.
Damals, während meiner Facharztausbildung, gab es in den Kinderkliniken immer viele Fälle von Meningitis. 1987, im ersten Jahr der Einführung der verbesserten Hib-Impfung, sanken in unserer Klinik die Zahlen von Meningitis bei Kindern um die Hälfte. Vor der Hib-Impfung bekamen jedes Jahr rund zwanzigtausend Kinder unter fünf Jahren lebensbedrohliche Infektionen durch Haemophilus influenzae Typ b. Ungefähr tausend Kinder starben daran. Mittlerweile gibt es pro Jahr weniger als fünfundzwanzig Hib-Erkrankungen und keine Todesfälle mehr.
Impfungen retten Kindern das Leben und sorgen für die Sicherheit von Familien. Dank Impfungen konnte ich ein besserer Arzt sein – damals hätte ich mir keinen einzigen Grund vorstellen können, nicht jede Impfung wie von den Centers for Disease Control and Prevention (CDC, eine Bundesbehörde des US-Gesundheitsministeriums*) und der American Academy of Pediatrics (AAP, eine US-Organisation beruflicher Vertreter der Pädiatrie) vorgeschrieben zu verabreichen. In diesen beiden Organisationen arbeiten viele sehr fleißige, bestens ausgebildete, um das Wohl der Allgemeinheit bekümmerte, kluge Wissenschaftler und Ärzte. Diese haben Richtlinien für die Impfungen im Kindesalter aufgestellt, die Kindern halfen und Leben retteten – was ich mit eigenen Augen beobachten konnte.
Ausgestattet mit großem Wissen, Hoffnung, Enthusiasmus und noch vielen braunen Haaren auf dem Kopf fing ich im Herbst 1988 an, am Emanuel Children’s Hospital in Portland, Oregon, als Arzt zu praktizieren. Als frisch gebackener Kinderarzt machte ich mich voller Begeisterung daran, alles dafür zu tun, dass es meinen kleinen Patienten gut ging und sie ein gesundes Leben führen konnten.
Doch etwas bereitete mir im Laufe der Jahre langsam Sorgen.
Die Kinder in unserer Praxis, die sich an unsere Ratschläge hielten, waren nicht so gesund, wie sie sein sollten. Stattdessen waren sie immer häufiger krank. Daisy hatte einen starken Ausschlag, der immer schlimmer wurde. Jorge fiel in der Schule durch Aufmerksamkeits- und Lernprobleme auf und seine Mutter berichtete unter Tränen, wie schwer er es hatte. Der Urin von Luke wies so hohe Blutzuckerwerte auf, dass ich, als ich die Ergebnisse erhielt, sofort seine Mutter auf dem Handy anrief, damit sie unverzüglich mit ihm in die Notaufnahme fuhr. Luke hatte juvenilen Typ 1 Diabetes und es bestand die Gefahr, an Hyperglykämie und Enzephalopathie zu sterben. Er war erst vier Jahre alt. Ein kleines Mädchen namens Julia entwickelte eine so starke Erdnussallergie, dass sie einen anaphylaktischen Schock bekam, weil sie im Kindergarten einen kleinen Klecks Erdnussbutter gegessen hatte. Ende der 1990er Jahre bis zum Anfang dieses Jahrtausends wurden nach und nach alle Kinderärzte in den USA mit der gleichen Erkenntnis konfrontiert: Bei unseren Kindern kam es zu einem explosionsartigen Anstieg chronischer Erkrankungen und anderer Krankheiten, darunter Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Aufmerksamkeitsstörungen, Angst, Asthma, Depressionen, Ekzeme, Reflux, Kopfschmerzen, Ohrenentzündungen, neurologische Störungen, Nasennebenhöhlenentzündungen, Infekte der Lunge, wie zum Beispiel Lungenentzündung, oder Harnwegs- und Halsentzündungen. Und das ist nur ein Teil der Krankheiten.
Viele dieser Erkrankungen sind darauf zurückzuführen, dass das Immunsystem unserer Kinder immer stärker beeinträchtigt wird. Die moderne Ernährungsweise, bei der zum Frühstück süßes Teiggebäck im Toaster aufgewärmt und mit zuckerhaltigen Getränken hinuntergespült wird, es mittags eingeschweißte Wurst und Kartoffelchips und zum Abendessen Spaghetti aus der Dose oder Fastfood gibt, enthält kaum nährstoffreiches Gemüse, dafür aber jede Menge giftige Zusatzstoffe (zum Beispiel Mittel, die das Wachstum von Schimmelpilzen in Brot verhindern, und aus Erdöl gewonnene Farbstoffe in so gut wie jedem speziell für Kinder gedachten Lebensmittel, von gesüßtem Joghurt bis hin zu eingelegtem Gemüse).
Neben dieser ungesunden Ernährung machen die meisten Kinder nicht genug Sport und spielen kaum im Freien. Sie leiden häufig unter Vitamin-D-Mangel, chronischem Schlafmangel und oftmals zu großem Stress. All diese Faktoren schaffen schon die Grundlage für ein geschwächtes Immunsystem und somit für eine höhere Anfälligkeit für Krankheiten. Wenn dann noch all die Giftstoffe in der Luft, dem Boden und im Wasser, aber auch in den Möbelstücken, auf denen wir sitzen und schlafen, den Reinigungsmitteln unter dem Waschbecken und den Plastikbehältern, die langsam Chemikalien an unsere Lebensmittel abgeben, hinzukommen, hat man alle Zutaten für eine beeinträchtigte Gesundheit. Und damit nicht genug: Wir Ärzte verschlimmern diese Situation noch, indem wir zu häufig Antibiotika verschreiben und zu schnell zu einschneidenden Therapien und Medikamenten raten, ohne uns selbst sowie Eltern und Patienten ausreichend über die Nebenwirkungen zu informieren.
Und dann gibt es noch den enormen Anstieg der Autismusfälle.
Jack war ein aktiver Junge mit blonden Haaren, lauter Sommersprossen und himmelblauen Augen. Voller Energie kam er zu seiner Einjahresuntersuchung in die Praxis, kletterte vom Schoß seiner Mutter und versuchte interessiert, die Schubladen neben der Untersuchungsliege zu öffnen. Durch dieses Verhalten und die Unterhaltung mit seiner Mutter wusste ich, dass Jack ein gesundes, aktives, sich normal entwickelndes Kind war.
Das nächste Mal sah ich Jack im Alter von zwei Jahren. Er war inzwischen mit 18 Monaten zur Früherkennungsuntersuchung bei meinem Krankenpfleger gewesen und hatte die entsprechenden Impfungen bekommen. Ehe ich die Tür zum Behandlungszimmer öffnete, ging ich schnell Jacks Akte durch: Seine Entwicklung war normal gewesen und er hatte alle Entwicklungsschritte erreicht. Doch als ich diesmal ins Behandlungszimmer kam, sah ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Statt aktiv den Raum zu erkunden, saß der zweijährige Jack still in seinem Kinderwagen neben seiner Mutter, wackelte mit dem Kopf vor und zurück, ohne irgendwo richtig hinzuschauen. Er war vollkommen in seiner eigenen Welt. Seine Mutter berichtete, Jack hätte sogar das Interesse an Essen verloren. Stundenlang saß er da und stellte seine Spielzeugeisenbahn in einer Reihe auf. Sie erläuterte, er hätte irgendwann zwischen dem Alter von achtzehn Monaten und diesem Besuch aufgehört, Blickkontakt herzustellen. Manchmal warf er seinen Kopf gegen das Gitter seines Kinderbettchens, als ob er Schmerzen hätte. Und obwohl er mit zwölf Monaten ein paar Worte hatte sprechen können, konnte seine Mutter die Laute, die er jetzt machte, nicht mehr verstehen.
Ich konnte keine definitive Diagnose stellen, denn dafür musste ich die Familie in ein spezielles medizinisches Zentrum schicken, aber ich vermutete, dass der teilnahmslos vor mir sitzende, nicht lächelnde Junge unter Autismus litt.
Wie konnte es sein, dass ein von mir behandeltes Kind, das im Alter von einem Jahr vollkommen normal gewesen war, mit zwei Jahren so stark entwicklungsverzögert und neurologisch eingeschränkt war?
Jack war kein Einzelfall.
Man konnte den Anstieg von Autismus nicht ignorieren. Es hatte ihn einfach nicht gegeben, als ich 1981 bis 1985 in Dartmouth Medizin studierte. Nur während meiner Facharztausbildung in den Jahren 1985 bis 1988 sah ich ein paar leichte Fälle von Autismus bei Kindern. Doch als ich Ende der 1990er, Anfang der 2000er-Jahre als Kinderarzt bei Westside Pediatrics tätig