Das Versagen der Kleinfamilie. Mariam Irene Tazi-Preve

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Das Versagen der Kleinfamilie - Mariam Irene Tazi-Preve

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den erwachsenen Menschen und die Gestaltung der Welt kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

      Die Schilderungen einer brutalisierten Arbeitswelt, in der extrem hierarchisches Denken und Konkurrenzdruck vorherrschen und für normal gehalten werden, zeugen von einer pervertierten Logik, in der gerade die emotional zu kurz Gekommenen ihre Defizite kompensieren können. Sind die Fähigkeiten der Arbeitskraft zur Empathie unterentwickelt, führen sie zur Herausbildung eines übersteigerten Willens zur Selbstbehauptung und Selbstdarstellung.

      Wenn man alle Menschen der Industriegesellschaft, die in irgendeiner Form süchtig und psychisch beeinträchtigt sind, zusammennimmt, so erweist sich nach Schätzungen Rengglis (1992) etwa die Hälfte als psychisch gestört, entweder offen oder durch irgendeine Form von körperlichem Leiden verdeckt. Das Verlangen nach der Mutter wandelt sich in nie zu stillende Bedürfnisse – die Sucht nach Konsum ersetzt die menschliche Nähe. Dieser universell süchtige Menschentyp ist Motor unserer heutigen (post)industrialisierten Welt. Es ist diese Sucht, mit welcher wir langsam, aber unerbittlich unseren Planeten plündern.

      Fragmentiertes wieder zusammenbringen, dafür plädierte die ägyptische Feministin und Friedensaktivistin Nawal El Saadawi 2008 auf der Weltfrauenkonferenz in Madrid. Wenn das fragmentierte Wissen wieder zusammengesetzt würde, entstehe Wissen erst wirklich. Diesem Verständnis folgend, erweitere ich den Blickwinkel auf die Familie um weitere Bereiche, die unsere Lebenswirklichkeit bestimmen. Dazu gehören Politik, Wirtschaft und Sexualität.

      Es ist mir ein Anliegen, das Leiden an der Kleinfamilie aufzuzeigen, es zu benennen, aus dem Unterbewusstsein, dem Schatten und aus den psychotherapeutischen Praxen herauszuholen. Ich möchte es ins Licht der gesellschaftspolitischen Analyse stellen. Es geht darum, das zu artikulieren, was in der üblichen Rhetorik zu und über Familie unsichtbar bleibt. Und natürlich kommen wir um den Feminismus nicht herum.4 Wenn ich hier eine feministische Familientheorie vorschlage, so meine ich, dass es nicht nur um das individuelle Hickhack um die Verteilung der Hausarbeit geht. Es geht um eine viel weiter reichende systemische Sichtweise darauf, dass die gesamten politisch-ökonomischen [15] Strukturen und Institutionen auf dem Ungleichgewicht in der Geschlechterfrage, z.B. der unbezahlten Familienarbeit, gegründet sind. Und ohne die Infragestellung jener kann es keine gerechte, nicht-ausbeuterische Gesellschaft geben.

      Daran knüpfen sich zahlreiche Fragen: Was bedeutet es, dass die Kleinfamilie die Norm ist und sich alternative Lebenskonzepte nicht durchsetzen konnten? Und: cui bono, also wem nützt dieses Familienbild? Warum überlässt die politische Linke dieses Feld gänzlich der konservativen Seite? Und wo sind die Alternativen?

      Ich verstehe meine Arbeit als patriarchatskritische5, die sich mit einer umfassenden Deutung von Familie befasst, d.h. mit Implikationen für das Individuum, für Gesellschaft, Politik und Ökonomie. Es geht eben nicht nur um die individuelle Frau und den individuellen Mann, sondern um die Geschlechterfrage als systemische. Diese Herangehensweise zeigt, dass sich die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und familialen Strukturen entlang strikter Geschlechterzuschreibungen entwickelt haben, in denen einem Ansatz Vorrang und Deutungsmacht zukommt, der patriarchal oder androzentrisch genannt werden kann. Ich werde zeigen, dass sich die „patriarchale Denkgewalt“ weiter ausbaut, anstatt verringert, wie allgemein behauptet wird.

      Das Reden über Familie, Intimes, über Emotionen und das tägliche Leben, wird gering geachtet gegenüber dem Reden über Zivilisation, Politik und Ökonomie. Das eine scheint zu klein, zu eng, zu trivial gegenüber dem angeblich wirklich Wichtigen, das zumeist mit großem Gestus vorgebracht wird, erinnern wir uns an den Titel „The Clash of Civilizations“ (Huntington 1996). Auf der anderen Seite haben die moralischen Instanzen sehr wohl erkannt, wie bedeutsam es ist, in welcher Weise verwandtschaftliche Strukturen gestaltet sind und wie die „Menschenproduktion“ (Heinsohn/Knieper/Steiger 1979) stattfindet, und sich historisch früh des Themas bemächtigt. Die Kirche gibt seit Jahrhunderten vor, unter welchen Bedingungen Sexualität stattfinden darf. Und im Spätmittelalter setzten die politischen Bemühungen um die Steuerung der Nachwuchsproduktion durch eine militante Bevölkerungspolitik ein.

      Die liberalisierte Wirtschaft wiederum führt zu einer sich verschärfenden Situation, in der es Müttern und wohlwollenden Vätern erschwert, wenn nicht verunmöglicht werden soll, überhaupt noch Kinder aufzuziehen. Das führt in Folge zur Ausweitung des Phänomens der Alleinerziehenden, die unter völliger [16] psychischer Überforderung und materieller Benachteiligung leiden. Alternative Lebensformen bleiben dagegen marginal.

      Man muss sich also die Frage stellen, ob das Gebären durch die Mütter zum Erliegen kommen soll, um mithilfe der mittlerweile gängigen Reproduktionstechnologie durch eine zersplitterte Mutterschaft ersetzt zu werden. Ob es also das Ziel ist, die Integrität der Mutter zu zerstören. Platon hatte dies in seiner „Politeia“ schon im Sinn, als er die von der Mutterschaft abgetrennte Aufzucht unter staatlichen Bedingungen plante. Das ist ein Szenario, das sich abzeichnet. Das Zerbrechen der Kleinfamilie nicht in Richtung „Befreiung“, sondern in Richtung kontrollierter Ersetzung durch Technik.

      Meine These besagt, dass die Vorstellung von Privatheit in Form der Kleinfamilienstruktur selbst das Problem darstellt. Sie funktioniert nicht, weil sie gar nicht funktionieren kann. Nicht nur das, es drängt sich vielmehr der Verdacht auf, dass genau dieses Nichtfunktionieren und seine Folgen durchaus erwünscht und geplant sind. Ich gehe also davon aus, dass die Kleinfamilie Ort der Zurichtung des Menschen in die patriarchale Zivilisation ist. Das Thema dieses Buches ist daher die Kritik, die Analyse und der Aufruf zur notwendigen Abkehr vom „Glaubenssystem Kleinfamilie“. Im Vater-Mutter-Kind-Dreieck sind erotische Anziehung, ökonomische Abhängigkeit und das Aufziehen von Kindern miteinander verknüpft. Die Grundannahme dieser Konstellation – die lebenslange Liebesbeziehung – hält aber der Realität des Alltags nachweislich nicht stand. Nur weil die Kleinfamilie die einzige Familienform ist, die wir kennen6, muss sie noch lange nicht richtig und bedürfnisgerecht sein. Und obwohl hinlänglich bekannt ist, dass die Familie der Ort der Entstehung von Neurosen ist, wird nur die Verfasstheit und Ausgestaltung des Ortes, aber nicht seine Existenz selbst in Frage gestellt.

      Meine These impliziert „das Abfallen vom Glauben“ (Werlhof), dass das westliche Verständnis von Familie das einzig mögliche sei. Wir müssen also aufhören mit diesem permanenten Kolonialismus innerhalb der Gesellschaft, die damit in ihren Möglichkeiten beschränkt und auf eine einzige Form von Familie fokussiert bleiben soll. Wir müssen auch aufhören zu glauben, dass an der Familie nur leichte Abänderungen notwendig seien oder dass mit dem „Hineintherapieren“ der Familienmitglieder das Problem gelöst sei.

      [17] Meine These besagt des Weiteren, dass Familie – verstanden als wichtigste soziale Gemeinschaft, in der Kinder behütet aufwachsen können und Erwachsene Rückhalt finden – nicht die Kleinfamilie ist, sondern die in manchen Gesellschaften übliche matrilineare Sozialordnung7 darstellt. Familie unter patriarchalen Vorzeichen muss naturgemäß scheitern, weil sie die matrilineare Generationenfolge negiert und auf den Kopf stellt. An die Stelle von Verantwortlichkeit und Fürsorge für die Nachkommen ist historisch jene von Obrigkeit, Herrschaft und Inbesitznahme getreten. Wenn sich die Familienformen und das Familienrecht auch seither wesentlich gewandelt haben, ist die Charakteristik von Familie in ihrem ideologischen Kern doch erhalten geblieben.

      Das Buch umfasst daher nicht nur eine Analyse westlicher familialer Verhältnisse, sondern bezieht in einem weiteren Schritt alternative Sichtweisen, Konzepte und Lebensweisen mit ein. So werden die familialen Strukturen außereuropäischer, matrilinear lebender Gesellschaften skizziert und darüber hinaus Spuren matrilinearer Lebensweisen hierzulande aufgezeigt. Diese können modellhaft für neue Formen familialen Lebens stehen.

      Der wissenschaftliche Anspruch impliziert für mich den Wunsch nach Veränderung, um nicht nur bei der Beforschung gesellschaftlicher Missstände stehen zu bleiben. Um die Destruktivität des familialen Systems zu verstehen, nachhaltig analysieren und letztlich die Lebensbedingungen verändern zu können, ist es unerlässlich,

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