Gefühlte Wahrheiten. Ortwin Renn
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Diese, auf den ersten Blick überzeugende, Vorstellung über unsere Wahrnehmung ist aber bei näherem Hinsehen sehr fragwürdig.10 Dies lässt sich beispielswiese an Gemälden verdeutlichen. Was wir mit unseren Augen wahrnehmen, ist nichts anderes als ein Gemisch aus Ölfarben, die in uns den Eindruck eines Gegenstandes hinterlassen. Um es noch präziser zu beschreiben, unser Auge sieht nichts Anderes als Lichtreflexionen von Gegenständen, von denen aus die für unser Auge sichtbaren Lichtwellen gebrochen werden. Unsere Netzhaut im Auge rekonstruiert aus diesen Lichtreflexen Eindrücke von Konturen und Farben.11 Und das ist alles! Ob der Baum ein Baum, der Tisch ein Tisch, das Haus ein Haus oder die Person X die Person X darstellt, ist nicht aus den Lichtreflexen, die wir in der Netzhaut des Auges repräsentiert sehen, zu erschließen. Erst durch unsere Erziehung (Sozialisation) lernen wir, Mustern aus bestimmten Konturen und Farben Bedeutungen zuzuweisen. Wenn wir beispielsweise anders ausgeprägte Sinnesorgane hätten, die in der Lage wären, Moleküle in ihren Konturen wahrzunehmen, dann würde sich für uns die Außenwelt völlig anders präsentieren und wir würden demzufolge den von uns wahrgenommen Konturen und Farben auch andere Bedeutungen zuschreiben.
Dass wir den von uns wahrgenommenen Sinneseindrücken aus der Außenwelt Bedeutungen zuschreiben, ist von großer Relevanz für unser Verständnis von Wahrheit und Realität.12 Denn anders als das intuitive Konzept von Wahrnehmungen nahelegt, werden Bedeutungen erst durch die Sprache und damit durch die Kultur vermittelt. Die beiden Soziologen Peter Berger und Thomas Luckmann haben diese Erkenntnis auf die einfache [20] Formel gebracht: Durch die Einrichtung dieser Ordnung verwirklicht die Sprache eine Welt in doppeltem Sinne: Sie begreift sie und erzeugt sie.13 Demgemäß kann es auch keine „objektive“ Erkenntnis der äußeren Wirklichkeit geben. Was immer wir als Wirklichkeit wahrnehmen, ist ein Koppelprodukt der durch unsere Sinnesorgane aufgenommenen Reize und der mit diesen Reizen verbundenen Bedeutungen, die wir alle im Verlaufe der sogenannten „Enkulturation“, also des langsamen Einfindens und Einlebens in unsere Kultur, erlernt haben und weiterhin erlernen. Dieser Lernprozess ist ein höchst komplexer Vorgang. Denn unsere Sprache wäre völlig überfordert, wenn wir für jeden möglichen Gegenstand (also jede Kombination von Konturen und Farben) einen eigenen Begriff vorsehen würden. Unsere Sprache erlaubt von daher die Konstruktion von Zusammenhängen zwischen begrifflichen Repräsentationen, also Typisierungen, die ähnliche Gegenstände zu einem Sammelbegriff, und diesen wieder zu einem noch umfassenderen Oberbegriff usw. ordnen.14 So umfasst etwa der Begriff „Haus“ eine ganze Palette von höchst unterschiedlich aussehenden dreidimensionalen Gebilden, die eine große Bandbreite an Formen, Größen, Farben, Dachkonstruktionen und Fassadengestaltungen aufweisen können. Interessanterweise können Kinder bereits ab dem dritten Lebensjahr mit einer sehr geringen Fehlerquote diese höchst unterschiedlichen Formen als eine zusammenhängende Einheit wahrnehmen, diese zum Typus Haus zusammenfassen und sie von ähnlichen Gegenständen (wie Scheunen, Lagerhallen oder Wohnwagen) unterscheiden.15
Im Rahmen der Philosophie des Wissens (Epistemologie) gibt es eine lebhafte Debatte darüber, inwieweit die von unserer Kultur vorgenommenen Deutungen der Phänomene der Außenwelt mit den (wie auch immer definierten) objektiv vorgegebenen Strukturen der Außenwelt übereinstimmen.16 Einen stichhaltigen Nachweis für eine solche Strukturähnlichkeit [21] zwischen Wahrnehmung und Realität kann es nicht geben, weil ja auch diese Beweise wiederum auf kulturelle Deutungen zurückgreifen müssen. Entsprechend bewegen wir uns in einer unendlichen Schleife (Regress), weil wir immer Deutungen mit Deutungen erklären müssen. Dennoch gibt es viele Hinweise darauf, dass unsere Wahrnehmungen nicht völlig losgelöst von den extern vorgegebenen Strukturen der Außenwelt sind. Zentrale Begriffe für diese Hoffnung auf eine Angleichung zwischen den Repräsentationen der Außenwelt in unserem Inneren und den vorgegebenen Strukturen der Außenwelt sind „Intervention“ und „Erfahrung“.17 Durch unser Handeln intervenieren wir nämlich in die Außenwelt und aus den Signalen, die wir als Reaktion auf unsere Interventionen erhalten, können wir etwas über diese Außenwelt erschließen. Wenn wir beispielsweise auf einer glatten Straße spazieren gehen, dies aber nicht wahrnehmen, dann kann es leicht sein, dass wir ins Rutschen kommen. Aus der unmittelbaren Erfahrung dieser Konsequenz können wir dann schlussfolgern, dass die Straße glatt gewesen sein muss, da wir sonst kaum ausgerutscht wären. Oder ein noch anschaulicheres Beispiel: Wenn jemand nachts über eine stockdunkle Wiese läuft und fest davon überzeugt ist, dass auf dieser Wiese keine Bäume stehen, und er läuft frontal gegen einen Baum, dann wird er sein Bild von der Wiese aus schmerzhafter Erfahrung schnell korrigieren und in seine mentale Repräsentation der Wiese zumindest einen Baum einfügen.
Diese Sichtweise vom sukzessiven Lernen durch Intervention und Erfahrung bezeichnet man als Homomorphie oder Homomorphismus. Die Vorsilbe homo- deutet auf „ähnlich“ hin, während die Vorsilbe iso- auf identisch verweist. Mit diesem Wort „Ähnlichkeit“ soll zum Ausdruck gebracht werden, dass es unendlich viele Lernprozesse benötigt, um aus den wahrgenommenen Konturen und Farben die entsprechenden Bedeutungen so abzuleiten, dass unsere (kulturell vermittelten) Repräsentationen der Wirklichkeit aufgrund von Lernerfahrungen mit den Strukturen der äußeren Realität zunehmend übereinstimmen.
[22] Dieses Lernen findet zum einen in jedem Individuum statt, zum anderen ist es als ein andauernder kultureller Evolutionsprozess zu verstehen.18 Die gesamte Geschichte der Menschheit besteht in dieser Sichtweise aus einem fortlaufenden Lernprozess, der dazu führt, dass wir zu immer komplexeren Strukturen der Außenwelt vorstoßen und mithilfe von Intervention und Erfahrung neue Signale sammeln und verarbeiten, die zu einer für unsere Zwecke geeigneteren Repräsentation der Außenwelt beitragen. Dabei kann es immer wieder zu Fehldeutungen kommen, so wie wir dies im Verlauf der Geschichte der Naturwissenschaften vielfach erlebt haben.19 Im Schnitt jedoch hat sich unser Wissen über die Außenwelt aufgrund unseres Lern- und Experimentiervermögens ständig verbessert. So konnten wir auch die biologisch vorgegebenen Grenzen unserer Sinnesorgane durch die Konstruktion von neuen Wahrnehmungsinstrumenten erweitern, zum Beispiel durch das Mikroskop, durch den Geigerzähler oder die Kleinwinkelstreuung. Auch diese Instrumente nehmen nichts Anderes wahr als physikalische Signale, die wir mit Bedeutungen belegen müssen. Immer wieder zeigt sich dabei, dass wir Widersprüche zwischen den Bedeutungszuweisungen erleben, die häufig zum Anlass genommen werden, alte Einsichten zu verwerfen und ganz neue Deutungsmuster zu entwerfen (hier spricht man häufig von neuen Paradigmen).20
Was bedeuten diesen Überlegungen für die Frage nach Fakten und Fake News? Zunächst einmal sind menschliche Gesellschaften darauf angewiesen, kollektiv verbindliche Regeln für die Bezeichnung von Gegenständen, für die Einordnung von Sinneseindrücken und für Absprachen zum gemeinsamen Handeln einzuführen. Wenn dem nicht so wäre, käme es zu keiner Verständigung zwischen Menschen. Ein einfaches Beispiel kann dies illustrieren: Nehmen Sie an, Sie verabreden sich mit Ihren Freundinnen aus unterschiedlichen Kulturkreisen um 12:00 Uhr am Hauptbahnhof in Stuttgart. [23] Zur verabredeten Zeit, also um 12:00 Uhr, stehen Sie aber allein am Hauptbahnhof. Warum? Die erste Freundin, die aus Asien stammt, geht von einer anderen Zeitzone aus und richtet sich etwa nach der entsprechenden Uhrzeit in China, die zweite Freundin, die sich in Stuttgart nicht auskennt, hält das Rathaus für den Hauptbahnhof und die dritte hatte mit einem virtuellen Treffen, aber nicht mit einem realen Treffen gerechnet. Wenn jeder die Realität anders wahrnimmt und interpretiert, gibt es nur noch Chaos. Das bedeutet: Selbst wenn alle Wahrheit relativ wäre, sind die Menschen auf gemeinsame Regeln angewiesen, um ihre Welt um sich herum zu ordnen und dadurch handlungsfähig zu werden. Sie müssen sich daher vorab verständigen, was sie als wahr und was sie als falsch ansehen.
Eine solche Verständigung würde die radikalen Relativisten nicht weiter stören, man kann sich ja irgendwie arrangieren, ohne dass es eine für alle gültige Deutung der realen Welt geben muss21. Aber auch die Annahme der Subjektivität allen Wissens ist fragwürdig. Denn Erfahrung und systematische Beobachtung sorgen dafür, dass unsere Wahrheitsansprüche an den Konsequenzen ihrer Implikationen gemessen werden können.22