Gefühlte Wahrheiten. Ortwin Renn

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Gefühlte Wahrheiten - Ortwin Renn

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wir über die Implikationen unserer Wahrheitsansprüche erzeugen und überprüfen können. Wissen ist also keineswegs beliebig, aber auch kein reines Abbild der Realität, sondern ein ständiger Annäherungsprozess zwischen Vermuten, Erkennen, Überprüfen, Erfahren und Modifizieren.

      Die Praxis der Wissenschaft, Wahrheitsansprüche methodisch zu überprüfen und dadurch falsche Aussagen auszuschließen und (vorläufig) wahre Aussagen herauszufiltern, ist also ein wichtiger Garant dafür, verlässliches Wissen für Handlungen bereit zu stellen. Wer sich auf Spekulationen, Illusionen und Wunschvorstellungen verlässt, wird schnell merken, dass sich die damit verbundenen Hoffnungen und Erwartungen nicht erfüllen werden. Je gewichtiger die möglichen Konsequenzen unseres Handelns ausfallen, man denke nur an globale Risiken wie den Klimawandel, den Zusammenbruch [24] globaler Finanzmärkte oder die Ausbreitung von Epidemien, desto wichtiger ist es, verlässliches Wissen zu haben. Denn sonst werden aus den Risiken schnell Katastrophen. Kurzum: Wissenschaftliches Wissen ist zwar immer an vorgegebene Sprachstrukturen und Grenzen unsers Denkens gebunden, aber zur Bewältigung unserer gesellschaftlichen Probleme gibt es keine bessere Alternative, als methodisch abgesichertes Wissen zu schaffen und dies auch als Grundlage unserer Abwägungen über Handlungsalternativen zu wählen.

      Die Komplexitätswende

      Aber ist es nicht so, dass auch die Wissenschaft häufig irrt oder gar nicht vorhersagen kann, welche Konsequenzen unsere Handlungen haben? Wie oft haben sich Experten und Expertinnen getäuscht? Berühmt ist die Aussage des Physikgenies Albert Einstein zum Thema Atomenergie: „Es gibt nicht das geringste Anzeichen, dass wir jemals Atomenergie entwickeln können.“23 Diese Prognose war wohl offensichtlich falsch, auch wenn viele Länder, darunter Deutschland, sich erst 2011 dazu entschlossen haben, diesen Weg der Stromerzeugung aufzugeben. Es gibt ganze Sammlungen folgenreicher Irrtümer berühmter Wissenschaftler.24 Allerdings sind diese Prognosen meist gar nicht aus methodisch überprüften Wahrheitsansprüchen entwickelt worden, sondern geben subjektive Einschätzungen berühmter Leute wieder, die sich genauso irren können wie jede und jeder von uns. Gleichzeitig gibt es auch Wahrheitsansprüche, die zunächst in der Wissenschaft als bestätigt angesehen wurden, sich dann aber als falsch erwiesen haben. Das liegt vor allem daran, dass auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Komplexität der untersuchten Sachverhalte nicht gut genug verstanden haben. Um das besser einschätzen zu können, ist eine nähere Erläuterung von Kausalität als Grundelement wissenschaftlicher Analyse notwendig.

      [25] Die Zuordnung von Ursachen zu Folgen ist ein basales Element unseres Denkens und Handelns. Soweit wir wissen, verfügen alle Sprachen dieser Welt über Worte, die auf kausale Zusammenhänge hinweisen.25 In der deutschen Sprache sind das die Konjunktionen „weil“, „da“ oder „immer wenn …, dann“. Viele Anthropologen sind der Ansicht, dass die Erfolgsgeschichte des Menschen in der natürlichen Evolution weitgehend darauf beruht, dass die Gattung Mensch zum kausalen Denken fähig ist und damit aus Interventionen hat lernen können.26 Einfach ausgedrückt: Aus Schaden wird man klug.

      So offenkundig das kausale Denken in unserem Alltag verankert ist, so schwierig ist es aber, Kausalität als eine objektivierbare Größe zu fassen. Ob es in der Natur wirklich Kausalität gibt, kann niemand sagen.27 So resümiert etwa Albert Einstein:28

      „Die einer Theorie zugrundeliegenden Begriffe und Grundgesetze (…) sind freie Erfindungen des menschlichen Geistes, die sich weder durch die Natur des menschlichen Geistes noch sonst in irgendeiner Weise a priori rechtfertigen lassen (…). Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit“.

      Noch deutlicher hinsichtlich des konstruktiven Charakters der Kausalität bewegen sich die Auffassungen des Soziologen Niklas Luhmann:29

      [26] „Die Frage lautet nicht mehr, welche Ursache welche Wirkung hat, sondern wie eine Zuordnung von Wirkungen auf Ursachen und von Ursachen auf Wirkungen konstruiert wird; und vor allem: wer bestimmt, was dabei unberücksichtigt bleiben kann. (…)“

      Wir können jedoch mit Fug und Recht behaupten, dass bestimmte Folgen immer wieder mit bestimmten auslösenden Ereignissen verbunden sind und wir deshalb pragmatisch so handeln können, als ob diese Auslöser für die Folgen verantwortlich wären. Wenn wir uns dreimal auf eine heiße Herdplatte gesetzt haben und den entsprechenden Schmerz spüren, dann ist es folgerichtig zu schließen, dass Hitze bei Menschen Schmerzen verursacht und man von daher den Kontakt mit heißen Gegenständen möglichst meiden sollte. Natürlich könnte man auch zu anderen Schlussfolgerungen kommen: Etwa, dass man sich nicht auf Eisenplatten setzen sollte, weil dies zu Schmerzen führe. Weitere Experimente mit kalten Eisenplatten könnten dann aber zu einer Korrektur dieses ersten Eindruckes führen.

      Im Verlaufe der menschlichen Geschichte haben Kulturen gelernt, das durch individuelle Erfahrung angesammelte Wissen über fortlaufende Interventionen und Rückmeldungen Schritt für Schritt zu systematisieren, zu dokumentieren (erst mündlich, dann schriftlich und heute per Datenbank) und an die folgenden Generationen weiterzugeben. Dazu gehört auch das kausale Wissen, das uns hilft, negative Erlebnisse zu vermeiden und positive zu fördern. Trotz all dieser Lernprozesse müssen wir immer damit rechnen, dass die Rückschlüsse, die wir aus unseren Interventionen ziehen, den realen Gegebenheiten nicht entsprechen und vielleicht erst künftige Generationen hier zu einer besseren Einsicht gelangen.30

      In einer idealen, abgeschlossenen Welt lassen sich für alle Phänomene Ursachen und Wirkungen angeben und folgerichtig, wenn man die Ursachen kennt, auch die Folgen vorhersagen. Wenn man beispielsweise immer wieder beobachtet hat, dass Wasser bei 100 Grad zu kochen beginnt, dann kann ich mit großer Sicherheit vorhersagen, dass das Wasser in einem Topf, den ich in 10 Minuten erhitzen werde, ebenfalls bei 100 Grad kochen wird. Diese Prognose, so wissen wir heute, gilt nicht für alle Gegenden der Welt [27] und verändert sich je nach Außendruck. Bei einem Schnellkochtopf macht man sich die Abhängigkeit der Siedetemperatur vom Außendruck beispielsweise zunutze, indem man den Innendruck im Topf erhöht. Durch eine Druckerhöhung von meist einem Bar (1.000 hPa) erreicht man auf diese Weise eine Steigerung der Siedetemperatur des Wassers von 100 °C auf ungefähr 120 °C. Gleichzeitig kann man auf molekularer Ebene nachweisen, dass die einzelnen Moleküle nicht genau bei 100 Grad den Siedepunkt erreichen, sondern deren Siedepunkte statistisch um diesen Wert streuen. Genau genommen kocht Wasser also nicht bei 100 Grad, sondern nur im Schnitt aller Moleküle unter Normaldruck.

      Viele physikalischen Ursache-Wirkungsbeziehungen gelten nur unter bestimmten Randbedingungen. Diese zu erforschen ist eine wichtige Aufgabe der Physik. Je mehr diese Randbedingungen in unterschiedlicher Richtung und Stärke sowie auf die ursprüngliche Ursache-Wirkungskette Einfluss nehmen, also den Effekt verstärken oder abmildern, desto schwieriger wird es für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Phänomene zu erklären und erst recht zu prognostizieren. Kausales Wissen ist also nicht voraussetzungslos, sondern ist in den jeweiligen Anwendungskontext eingebunden.

      Doch die Welt ist noch komplexer, als das Beispiel mit der Siedetemperatur von Wasser nahelegt. Bei vielen naturwissenschaftlichen Phänomenen, wie etwa dem Wetter oder dem Klimawandel, liegen zwischen dem auslösenden Ereignis und den dadurch bewirkten Konsequenzen eine Vielzahl von einflussnehmenden Variablen, die bestimmte Effekte verstärken, abschwächen oder sogar außer Kraft setzen. Häufig ist den Wissenschaftsteams die Summe aller möglichen Einflussfaktoren gar nicht bekannt. Dann lässt sich zwar ein bestimmter kausaler Wirkungsverlauf nachzeichnen, aber kaum quantitativ berechnen oder gar vorhersagen.31 Darüber hinaus sind viele kausale Beziehungen nichtlinear. Das bedeutet, dass es erst ab bestimmten Schwellenwerten zu einer Wirkung kommt oder aber dass bestimmte Zusammenhänge in einem Zeitabschnitt parallel, dann aber in [28] einem anderen Abschnitt entgegengesetzt verlaufen oder etwa mit exponentieller Kraft auseinanderdriften. Winzig kleine Veränderungen bei einer Ursache oder mehreren Ursachen können daher

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