Gefühlte Wahrheiten. Ortwin Renn

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eine Mischung [38] aus Beobachtung und kulturabhängiger Deutung darstellt und damit auch relativ zu ihrer Entstehungsgeschichte zu sehen ist, so ist sie doch zu dem Zeitpunkt, an dem sie den Stand des Wissens wiedergibt, prinzipiell besser geeignet, als Richtschnur für die Beurteilung von generalisierbaren Sachverhalten zu dienen als jede andere Form des Wissens.56

      Der Philosoph Jürgen Mittelstraß hat diese Einsicht in einer Rede vor der Humboldt-Universität mit folgenden Worten beschrieben:57

      Die wissenschaftliche Vorgehensweise hat uns „vor einem falschen Relativismus bewahrt. Dass eine Theorie ihre Deutung in der Regel nicht festlegt, bedeutet nicht, dass jede Deutung, sei sie eine wissenschaftliche oder eine philosophische Deutung, gleich gut wäre“.

      Bei aller Ablehnung des Relativismus ist aber gleichzeitig zu betonen, das Wissenschaft bei komplexen und stochastischen Wissensbeständen keine eindeutigen Antworten geben kann, selbst wenn sie es wollte oder man ihr alle Forschungsmittel dieser Welt zur Verfügung stellen würde. Es verbleiben immer Unsicherheiten und mehrdeutige Interpretationsmöglichkeiten.

      Wir haben dieses Kapitel begonnen mit der Frage: Gibt es alternative Fakten? Und unsere Antwort lautet nun: Ja und Nein. Wenn mit diesem Begriff alternative Wahrheitsansprüche und unterschiedliche Auffassungen über die Realität gemeint sind, dann ist die Antwort: Ja. Wenn aber damit eine Pluralität von objektiver Wahrheit zum Ausdruck kommen soll, dann ist die Antwort: Nein. Wir sind in unserem Erkenntnisvermögen ständig konfrontiert mit unterschiedlichen Wahrheitsansprüchen, also Hypothesen über das, was wahr sein könnte. Aber wir können darauf vertrauen, dass sich unser Wissen sukzessiv dem Stand annähert, wie die Welt für uns real wirkt. Dabei finden wir oft nur eine Bandbreite von faktischen Wirkungen [39] vor, über die wir lediglich Aussagen zu ihrer Wahrscheinlichkeit machen können. Das verwirrt viele und gibt Anlass zu der Vermutung, die Wissenschaft wisse das auch nicht so genau, dann könne man auch gleich die eigene Meinung zum Maßstab des Wissens machen. Stochastische Aussagen sind kein Zeichen der Schwäche, sondern der Stärke wissenschaftlicher Erkenntnis.58 Auch unsichere Aussagen aus der Wissenschaft durchlaufen eine stringente Überprüfung nach methodischer Zuverlässigkeit, theoretischer Stimmigkeit und inhaltlicher Gültigkeit (vor allem in den sogenannten peer review Prozessen, also Prüfverfahren durch andere Expertinnen und Experten unter Beibehaltung der Anonymität). Die Stochastik macht unser Wissen vielfältiger und facettenreicher, aber nicht ungenauer. Je besser es uns gelingt, die Bandbreite der möglichen Folgen eines auslösenden Ereignisses zu bestimmen, desto mehr können wir darauf vertrauen, dass die sich darauf aufbauenden Handlungsoptionen (es kann dann nicht nur eine geben) als relevante Orientierungen für ein zweckgerichtetes Handeln erweisen. Gleichzeitig bedeutet Stochastik aber auch, dass wir die bequeme Sichtweise, wir müssten nur A tun, um B zu erhalten gegen eine wesentlich kompliziertere Sichtweise eintauschen müssen. Wir haben immer mehrere Handlungsmöglichkeiten, die alle mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten und Unsicherheiten positive wie negative Auswirkungen zeitigen werden. Dazu benötigen wir eine Kultur der Abwägung, eine Kultur, die Konflikte aushält und ausgewogene und für alle Betroffenen faire Entscheidungen über die Wahl der Handlungsoptionen trifft. Was gar nicht hilft, ist die Schaffung oder Erfindung von uns gerade genehmen alternativen Fakten.

      Anmerkungen

      1 Der genaue Wortlaut des Interviews ist nachzulesen unter: http://www.nbcnews.com/meet-the-press/meet-press-01-22-17-n710491 (abgerufen am 13.8.2018).

      2 Ich folge hier wissenschaftstheoretisch der Schule des kritischen Rationalismus. Einen kurzen und prägnanten Überblick gibt es hier: http://www.leibniz-fh.de/fileadmin/Redaktion/pdf/FH/Arbeitspapiere/Arbeitspapier_8_Einf_Wissenschaftstheorie.pdf, S. 22ff. (abgerufen am 13.8.2018). Etwas detaillierter in: Eisend, M. und Kuß, A. (2017): Die wissenschaftstheoretische Grundlage: Wissenschaftlicher Realismus. In: M. Eisend und A. Kuß (Hrsg.): Grundlagen empirischer Forschung. Springer Fachmedien: Wiesbaden, S. 69 – 92.

      3 Dazu der klassische Aufsatz von F.H. Tenbruck (1969): Regulative Funktionen der Wissenschaft in der pluralistischen Gesellschaft. In: H. Scholz (Hrsg.): Die Rolle der Wissenschaft in der modernen Gesellschaft. Duncker & Humblot: Berlin, S. 61 – 85.

      4 Diese wird in der Wissenschaftstheorie als intersubjektive Beweisführung angesehen. Ein Wahrheitsanspruch gilt dann als vorläufig angenommen, wenn alle Personen, die zur gleichen Erkenntnisgewinnung fähig sind (weil sie etwa die gleichen Messinstrumente haben) und die guten Willens sind, die Wahrheitsansprüche um ihrer selbst willen zu prüfen (also nicht lügen oder absichtlich den Kontext verändern) diesen Wahrheitsanspruch anerkennen. Siehe dazu: G. Endruweit (2015): Empirische Sozialforschung. Wissenschaftstheoretische Grundlagen. UVK Verlagsgesellschaft: Konstanz und München. S. 16ff.

      5 Zu den Grenzen der Naturwissenschaften siehe: Gerlach, W. (1938): Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis. In: Angewandte Chemie, 51(22): 313 – 318. Zu den philosophischen Grundlagen dazu: Chalmers, A. (1999): Grenzen der Wissenschaft. Springer: Berlin. Oder ausführlich in: Psillos, S. (1999): Scientific Realism: How Science Tracks Truth. Routledge: London/New York, S. 70ff.

      6 Dazu der Klassiker: Lyotard, F. (2012): Das postmoderne Wissen (hrsg. von P. Engelmann). 7. Auflage. Passagen Verlag: Wien. Ein Überblick in: Christopher Butler, C. (2002): Postmodernism. A Very Short Introduction. Oxford University Press: New York. Hier findet sich auch das berühmte Zitat von ihm: “Postmodernist thought sees the culture as containing a number of perpetually competing stories, whose effectiveness depends not so much on an appeal to an independent standard of judgment, as upon their appeal to the communities in which they circulate.”

      7 Einen kurzen und knappen Überblick mit z.T. beißender Kritik an der postmodernen Wissenschaftstheorie findet sich bei der Philosophin Helen Pluckrose: https://areomagazine.com/2017/03/27/how-french-intellectuals-ruined-the-west-postmodernism-and-its-impact-explained/ (abgerufen am 31.10.2018). Siehe auch dazu in der ZEIT: Nr. 52 vom 15.12.2016, den Aufsatz von Michael Hampe: Katerstimmung bei den pubertären Theoretikern. Dort beschreibt er in bewegenden Worten die Stimmung bei den postmodernen Theoretikern der linken Szene, deren Ideen geradezu von ihren politischen Feinden, den Rechten, übernommen und gegen die Linken angewandt werden. Mehr systematisch und argumentativ fundiert: Boghossian, P. (2016): Angst vor der Wahrheit. Ein Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus (Übersetzung von J. Rometsch). Suhrkamp: Berlin. Dazu die Klassiker: Sokal, A. und Jean Bricmont, Jean (1998): Fashionable Nonsense: Postmodern Intellectuals’ Abuse of Science. Picador: London sowie Koertge, N. (1998): A House Built on Sand: Exposing Postmodernist Myths About Science. Oxford University Press: Oxford.

      8 Hornscheidt, A. (1997): Der „linguistic turn“ aus der Sicht der Linguistik, in: B. Henningsen und S.M. Schröder (Hrsg.): Vom Ende der Humboldt-Kosmen. Konturen von Kulturwissenschaft. Nomos: Baden-Baden, S. 175 – 206. Besonders prägnant ausgedrückt von Bruno Latour: Yes, we are forever prisoners of language. Aus: Latour, B. (1999): Pandorra’s Hope: Essays on the Reality of Science Studies. Harvard University Press: Cambridge, S. 8.

      9 Siehe: Kebek, H.G. (1997): Wahrnehmung. Theorien, Methoden und Forschungsergebnisse. Juventa: München, S. 319.

      10 Die folgenden Ausführungen orientieren sich an dem Standardwerk der philosophischen Wahrnehmungsforschung: Fish, W. (2010): Philosophy of Perception: A Contemporary Introduction. Routledge: London und New York; an der psychologischen Wahrnehmungsforschung, vor allem an: Kebek, H.G. (1997), a.a.O. sowie an dem wissenssoziologischen Klassiker: Berger, P.L. und Luckmann, T. (2012): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. 24. Auflage. Fischer: Frankfurt am Main.

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