Gefühlte Wahrheiten. Ortwin Renn
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In einer stochastischen Welt gibt es junge Menschen, die weder rauchen, noch Alkohol trinken und jeden Tag Sport treiben und dennoch mit 35 Jahren einen tödlichen Herzschlag erleiden, ebenso gibt es steinalte Personen, die zu viel Alkohol trinken, zu viel rauchen, übergewichtig sind und sich auch nicht mehr vom Sofa wegbewegen, ohne dass sie an schweren chronischen Erkrankungen leiden. Wenn man die Glockenkurve wieder zurate zieht, dann verschiebt sich der Mittelwert der Kurve beim Raucher bzw. bei der Raucherin von links nach rechts, d. h. die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken, steigt erheblich an. Aber am linken unteren Rand der Kurve gibt es immer noch Personen, die trotz erheblichen Zigarettenkonsums uralt werden, während am anderen Ende bereits 30-jährige Nichtraucher von Lungenkrebs betroffen sind. Die gängige Formel: Wer raucht, stirbt an Krebs, ist also falsch. Wissenschaftliche Untersuchungen haben zweifelsfrei ergeben, dass sich die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken, bei Rauchern, [34] gegenüber Personen, die nicht rauchen, ungefähr verdoppelt.48 Das bedeutet aber nicht, dass alle Raucherinnen und Raucher an Krebs erkranken werden. Im Gegenteil: Eine knappe Mehrheit der Raucher und Raucherinnen wird nicht an Lungenkrebs erkranken. Aber es werden wesentlich mehr sein als unter den Personen, die nicht rauchen.
In der öffentlichen Wahrnehmung der Stochastik hat dies zu zwei diametral unterschiedlichen Reaktionsweisen geführt.49 Wenn ich selber ein bestimmtes riskantes Verhalten an den Tag lege, etwa Zigaretten rauche oder Extremsportarten betreibe, dann bin ich in der Regel auf die linke Seite der Glockenkurve fixiert. Ich gehe davon aus: Mir wird schon nichts passieren! Werde ich dagegen unfreiwillig einem Risiko ausgesetzt, so bin ich in der Regel auf die rechte Seite der Glockenkurve fixiert. Gleichgültig wie gering die Wahrscheinlichkeit, es trifft immer mich! Im Zweifel will ich lieber auf der sicheren Seite sein. Better safe than sorry! Diese beiden diametralen Reaktionsweisen machen den Dialog zwischen denjenigen, die Risiken verursachen, und denjenigen, die Risiko erleiden, extrem mühsam. Sofern ich von einem Risiko profitiere, bin ich auf der linken Seite der Kurve (es wird schon gut gehen), wenn ich ein Risiko erleide, auf der rechten Seite (es wird sicherlich alles schiefgehen). Obwohl beide Gruppen sich auf die gleiche Wahrscheinlichkeitsverteilung beziehen, also die gleiche Wissensgrundlage teilen, finden Sie nicht zusammen, weil sie aus eigenem Interesse eher auf die eine Seite der Wahrscheinlichkeitsfunktion oder auf die andere Seite fixiert sind.
Ein gutes Beispiel dafür ist die Diskussion um das Pflanzenschutzmittel Glyphosat.50 Die Hersteller des Mittels und die landwirtschaftlichen Nutzer [35] werden nicht müde zu betonen, dass dieses Mittel in der Konzentration, in der es Konsumenten aufnehmen, mit nur einer verschwindend geringen Wahrscheinlichkeit krebserzeugend sei. Das Risiko sei nicht null, aber extrem gering. Zudem seien Pflanzenschutzmittel wie Glyphosat für die Sicherung der Welternährung von großem Nutzen. Die Gegner des Pflanzenschutzmittels argumentieren dagegen, dass unabhängig von der Höhe der Wahrscheinlichkeit Menschen unfreiwillig einem krebserzeugenden Mittel ausgesetzt seien und diese Gefährdung grundsätzlich nicht tolerabel sei, weil endliche Wahrscheinlichkeit bedeutet: Eine von vielen wird Krebs bekommen.51 Und das nur, um höhere Erträge bzw. Gewinne bei der Erzeugung von Lebensmitteln zu erzielen. Zudem sei der Nutzen einer gesicherten Ernährung auch ohne chemische Pflanzenschutzmittel erreichbar. Beide Seiten sind auf jeweils eine Seite der Verteilung fixiert; sie finden nicht zusammen, weil sie die jeweils andere Seite ausblenden.
Diese klassische Polarisierung finden wir in nahezu allen Kontroversen in unserer Gesellschaft. Besonders brisant ist es bei der Frage, wie wahrscheinlich es ist, das männliche Flüchtlinge aus arabischen Ländern in Deutschland kriminell werden.52 Auch hier können wir nur Verteilungen angeben: Dass ein beliebiger aus Arabien stammender Flüchtling eine schwere Straftat in Deutschland begeht, liegt im statistischen Jahresmittel bei weniger als 1 %. Das heißt mehr als 99 % aus dieser Gruppe begehen keine schwere Straftat pro Jahr in Deutschland. Dennoch ist das Risiko von 1 % nicht Null. Es gibt also Menschen aus den arabischen Staaten, die hier in Deutschland schwere Straftaten begehen. Das weiß hierzulande inzwischen dank intensiver Medienberichterstattung jede Person (ausführlicher in Teil III). Jeder Einzelfall ist für viele Menschen der Beleg dafür, dass die ganze Gruppe zu solchen Straftaten neigt. Hier mit Stochastik zu argumentieren, ist in einer politisch aufgeladenen Situation meist vergeblich. Denn es stimmt auch, dass junge männliche Flüchtlinge aus den arabischen Staaten häufiger straffällig werden als deutsche Staatsangehörige.
[36] Die stochastische Wende ist eines der besonders schwierigen Merkmale bei der Vermittlung wissenschaftlichen Wissens. Nach wie vor gibt es noch viele Wissensbestände, die deterministische Zusammenhänge beschreiben. Hier kann man wesentlich leichter Fakten und falsche Aussagen über angebliche Fakten auseinanderhalten. Je mehr wir aber über komplexe Zusammenhänge wissen, desto häufiger entdecken wir stochastische Wirkungen. Dabei ist unklar, ob die Welt in sich stochastisch strukturiert ist (intrinsische oder ontologische Indeterminanz), ob wir Wirkungen nur statistisch beschreiben können (statistische Indeterminanz) oder ob unser Wissen einfach nicht ausreicht, um alle deterministischen Beziehungen in einer komplexen Gemengelage zu erfassen (epistemische Indeterminanz). Wie immer es auch sein mag, viele Aussagen der Wissenschaft sind heute stochastischer Natur und liefern demgemäß keine eindeutigen Ergebnisse, sondern eine Bandbreite an möglichen Ursache-Wirkungsbeziehungen. Diese Bandbreite ist aber keineswegs beliebig. Außerhalb der Bandbreite gibt es weiterhin falsche und absurde Wahrheitsansprüche, die sich nicht belegen lassen. Mit der Einführung stochastischer Überlegungen werden Aussagen über die Wirklichkeit nicht mehr eindeutig, sondern es gibt mehrere wissenschaftlich gleich gut belegte Aussagen, die parallel Geltung beanspruchen können. Mit dieser Pluralität von Wissensbeständen müssen wir leben (lernen).53
Postfaktisches Zeitalter?
Was folgt aus unseren Überlegungen zu diesen drei neuen Entwicklungen in unserem Verständnis von Wissen? Experten wie Laien nehmen Signale aus der Außenwelt auf und verbinden sie mit den in ihrer Kultur gängigen Deutungsmustern. Das gilt für alle Menschen in einem Kulturkreis, unabhängig ob sie Experten oder Laien sind. Experten haben aber eine Reihe von Regeln aufgestellt, die ihnen auf der einen Seite erlauben, klare Zuschreibungen für Phänomene zu schaffen (eindeutige Definitionen) und bei den [37] kausalen Beziehungen methodische Regeln einzuhalten, die den Forschernden helfen, Fehlurteile bei der Zuordnung von Ursachen und Folgen (etwa bloße Korrelationen zwischen Ereignissen) zu vermeiden und das zufällige Zusammentreffen von Ereignissen von kausalen Beziehungen zu trennen.54 In der Alltagswahrnehmung hat sich dagegen eine Fülle von sogenannten Faustregeln (Heurismen) der Wahrnehmung herausgebildet, die eine schnelle und für den Alltag auch zuverlässige Zuordnung von Ursachen und Folgen erlauben, die aber in Einzelfällen auch zu Fehlurteilen führen können. Dies wird uns im nächsten Kapitel noch eingehend beschäftigen.
Gleichzeitig haben aber auch die systematischen Methoden der Wissenschaft ihre Grenzen und Probleme. Sie bewegen sich in der Regel auf einem Abstraktionsniveau, das oft dem jeweiligen Einzelfall nicht gerecht wird und das all diejenigen Elemente ausblendet, die einer systematischen, in der Regel wiederholbaren und im Labor reproduzierbaren, Erfassung entgegensteht. Aus diesem Grunde ist es durchaus gerechtfertigt, neben dem systematischen Wissen der Wissenschaft auch das Erfahrungswissen der Praktiker, das über viele Jahrhunderte angesammelte endogene Wissen von Kulturen sowie das individuell geformte Alltagswissen bei der Erklärung und Prognose von Phänomenen mit einzubeziehen.55 Erst die Synthese vieler Wissensbereiche kann uns dem Ziel näherbringen, mehr Ähnlichkeit zwischen unseren Deutungen und den Phänomenen der Außenwelt zu schaffen.
Allerdings ist diese Bemühung um Synthese nicht als eine generelle Relativierung des wissenschaftlichen Kenntnisstands zu verstehen. Wenn es um die Frage nach den Ursachen für komplexe Phänomene geht, ist keine Institution besser geeignet, diese Frage sachgerecht zu beantworten, als die Wissenschaft. Sie hat im Verlaufe der kulturellen Evolution gelernt, belastbare Regeln für die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Rückschlüssen auf der Basis