Ein Zeitalter wird besichtig. Heinrich Mann
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Die russische Literatur – als die Revolution selbst, wie sie im Buch steht – hat seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts unsterblich eingeschlagen in die Welt bei den Intellektuellen des Westens. Ich gedenke der völlig vereinzelten Wirkung der »Kreutzersonate« – das Gebot der Keuschheit nach tausend Jahren wieder wörtlich, heilig genommen. Wir waren fremd angesprochen, der Ungläubigste erschrak, indes er zu lächeln meinte. Eine dynamische Moral (soeben hatte Nietzsche uns sogar ihre ohnmächtigen Reste ausgeredet) brach jäh herein. Sie machte Sensation, bis hinein in stumpfe Mengen, die nichts lasen. Die »Kreutzersonate« ist eines der Wunder des Zeitalters.
Geistig Bewanderte haben ihr bald angesehen, daß die geforderte Keuschheit nur ein Teil des Ganzen war. Um die integrale Reinheit ging es, um das sittlich bestimmte Leben, die Wahrheit, die Wahrheit! – es komme nach, was mag, es komme gar nichts mehr. Um dieselbe Zeit) geschah ein anderes Zeichen von gleichem Anspruch und nicht geringerer Kraft, die Affäre Dreyfus. Der Abstand der beiden ist nicht geistig, er ist soziologisch bestimmt.
Die französischen Intellektuellen in ihrem Entscheidungskampf um die Wahrheit blieben allein, trotz zahllosen aufgerührten Gewissen, mit so viel Haß, der sie traf, und bei aller Ergriffenheit der westlichen Welt. Die sozialen Tatsachen ließen in dem klassischen Fall, der ausgetragen wurde, keine unverbrüchliche Entscheidung zu. Die Wahrheit war »auf dem Marsch« – und erstickte unter Kränzen, als sie ankam.
Die Russen, ihre herrlichen Romanschreiber, waren in besserer Lage, – wenn ein Leiden ohnegleichen, das Leiden am »Totenhaus«, an der Verkehrtheit aller und an der eigenen, wenn sogar das Leiden unter der Wahrheit, die durchgesetzt werden will, irgendwen je gut gebettet hat. Dafür sind sie nunmehr wohl aufgehoben in der anonymen Verehrung unendlicher Leserschaften, die das eine Mal – nur dieses Mal in Generationen – bestätigt fanden, daß auch die Erkenntnis, auch der sittliche Wille siegen kann; nicht unfehlbar gehört der Erfolg der niedrigen Schlauheit und Bosheit.
Die Oktoberrevolution ist, wie jede echte, tiefe Revolution, die Verwirklichung einer hundertjährigen Literatur. Dies ist hauptsächlich darum die Tatsache, weil alle Intellektuellen unseres Kulturkreises, in dessen Mitte die Sowjetunion liegt, es so wissen wollen. Wenn – par impossible – die Sowjetunion eine Selbstverleugnung vornähme –.
Aber es geht nicht: mit dem ersten Zugeständnis höbe sie sich schon ganz und gar auf. Sie würde, ohne daß ein Wort fiele, den ungeheuren Ruhm der Nation ausstreichen: er ist literarisch.
Sie verlöre – aber wer weiß es so gut wie sie – alle intellektuellen Sympathien, die in nackter Wirklichkeit nichts anderes sind als die vollendete Weltrevolution. Sie ist nicht mehr zu unternehmen, sie bedarf weder der militärischen Eroberungen noch kommunistischer Propaganda, der künstlichen Ernährung mehr oder weniger verwandter Parteien (die es niemals ganz sind). Die Weltrevolution hat als Nährboden die Geister – ausnahmslos alle menschlichen Organismen, die jetzt denken, die jetzt sich selbst achten.
Die Teilerfolge der Revolution! Hier wurde vermutet und eingesehen, daß jenseits ihres Mutterlandes die Revolution eher zugelassen als umarmt, lieber anständig begrüßt als leidenschaftlich heimgeführt werden könnte. Aber auch die erwarteten Teilerfolge sind geistig-sittlich zuvor, erst nachher wird daraus, so viel von Umständen und Menschen erreichbar ist. Praktisch wäre dies ein Vorgang in vielen Etappen, kein Oktober tut es, viele Monate Oktober werden vorausgesetzt – und daß eine Menschenart nach der anderen ihren Geist öffnet.
Der Begriff des geistigen Menschen, des Intellektuellen oder Geisteskindes umfaßt das Menschengeschlecht. Die Unzugänglichen beweisen die Macht des Gedankens durch ihre Falschheit – auch sie ist nicht leicht durchzuhalten. Intellektuell kann ein Bauer sein. Ihren Arbeitern, die mit Maschinen umgehen, will die Sowjetunion nach ihrem ausgesprochenen Programm die Schulung von Studierten geben. Nur, damit die Maschine den Vorteil habe? Der Mensch soll gedeihen, und kann es, wenn er denkt.
Der Sozialismus ist kein Einfall von Technikern oder Ökonomisten. Fourier, Saint-Simon und le Pére Enfantin waren alles andere. Marx ist ein Philosoph der Tatsachen. Ihr Denker und Vollzieher zugleich ist Lenin. Zu der währenden Zeit des Realisten Stalin war die betonte, anschaulichste aller Kundgebungen (bis der Krieg kam) ein Schriftstellerkongreß.
Das Volk von Moskau, samt den eingeströmten Völkern, hat mit brennendem Eifer dem Auftritt seines Maxim Gorki beigewohnt, als dem Abschluß eines fruchtbaren Jahrhunderts, als dem Versprechen eines neuen fruchtbaren. Das Volk hat mit Recht die Reden der Schriftsteller für sein öffentliches Bekenntnis (am Kreuzweg wollte es die alte Sitte) – für sein eigenes, laut gewordenes Herz hat das Volk die Reden gehalten.
Des Kongresses erinnerte ich mich, als einen dieser Tage ein Geschäftsmann, früher im Vorstand einer Londoner Bank, auch seinerseits etwas bekannte. (Der Dritte im Gespräch hörte starr zu.) Die Worte hießen ungefähr: »Wenn die Revolution nicht das Beste vom Denkbaren verwirklicht hätte, ja, angenommen, sie hätte auf lange Sicht überhaupt nichts verwirklicht, es stäke nichts dahinter.« Pause. Sinnende Augen. Leiser: »Es scheint doch, etwas steckt dahinter.«
Ein Mann des praktischen Verkehrs, der dies äußert, glaubt mehr als er sagt, er hält auf, was über die Lippen möchte. (Noch sitzt ein Dritter starr dabei.) Der Mann ist ein Intellektueller, er hat seinen Geist geöffnet. Wer aber kam früher? Eindringlich bedacht, wer kam zuerst?
In russischen Hütten, an Winterabenden, beim Talglicht, es ist wohl sechzig Jahre her, hat ein Bauer den anderen Bauern vorgelesen – dies an tausend Abenden in tausend Hütten; und war zumeist nur einer, der die Kunst des Lesens selbst entdeckt hatte, gelehrt wurde sie damals nicht jedem. Er las zum Beispiel die Volkserzählungen des Grafen Leo Tolstoi; eines hohen Herrn, der aber schrieb, was Bauern zu lesen not tat.
Der Bauer las »Wieviel Erde braucht der Mensch?« Da läuft einer im weitesten Bogen um das Land, das er besitzen will. Die Regierung hat ihnen Land versprochen, soviel ihre Füße an einem Tag nehmen können im Lauf. Seine Gier läßt den Mann kein Maß finden, er läuft, sein Antlitz rötet sich feurig, es erblaßt schneeweiß, er läuft. Mit keuchender Lunge, dem Herzen, das stocken will, läuft er, bis er umfällt. Ist tot, wird auf der Stelle begraben. Sechs Fuß war er lang. Sechs Fuß Erde braucht der Mensch.
Das ist der Ursprung.
Ein Gleichnis von einer Schlagkraft, einer Unerbittlichkeit, wie Jesus Christus es erfunden hätte, über die Vergeblichkeit des Besitzes und das Menschenleben, das nicht seinetwegen dahingehen soll. Dergleichen mehr, gesetzt, ein Volk wäre begabt und lauschte darauf, ergibt zuletzt die Revolution. Sie war vor ihrem Ausbruch zugegen.
Das ist der Ursprung. Westliche Intellektuelle, die seiner gewahr werden, verneigen sich. Sie hatten manchmal die Revolution sogleich begrüßt, unbesehen und mit einiger Anmaßung, als geschehe sie ihretwegen. Indessen waren sie dem Ursprung fremd.
Andere, vielleicht die Bescheideneren, haben abgelehnt und nicht begriffen. Ich wüßte zu melden, was diese Schritt für Schritt überzeugt hat: es ist die tiefe, ursprüngliche Intellektualität der Revolution. Züge von ihr, die manche frühen, sogar parteimäßigen Anhänger enttäuscht haben bis zum Abfall – von der Partei, wenn nicht von der Revolution – die Moskauer Prozesse insbesondere, haben andere, zögernde Zuschauer erst vollends aufgeklärt, vermöge ihrer in aller Welt einzigen Intellektualität.
So weit wir sind, so weit wie der Dean of Canterbury, der Londoner Bankier, waren vor sechzig Jahren die Bauern in der Hütte beim Talglicht, wenn sie lauschten.
Drittes Kapitel.
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