Verlorener Sohn. Brennan Manning

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Verlorener Sohn - Brennan Manning

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und versuchen, die nüchterne Realität zu vergessen: Er hatte kein Geld und keinen Ort, an den er hätte gehen können.

      In ein paar Stunden würden die Mitglieder von Grace Cathedral, der Gemeinde, die er in Seattle gegründet hatte, zu Tausenden in eine der drei großen Arenen strömen, in denen der Weihnachtsgottesdienst stattfand – dampfenden Kaffee in den Händen, Bibeln unter dem Arm. Menschen in ihren besten Sonntagskleidern würden ebenso darunter sein wie solche in verblichenen Jeans oder Freizeitkleidung. Manche von ihnen hielten Alkohol für eine Sünde; andere brauten sich ihre eigenen geistigen Getränke. Es gab solche, die schockiert waren, als er eine Predigtreihe über die Freude am Sex in der Ehe gehalten hatte; andere waren ihm so dankbar gewesen, dass sie es ihm gar nicht genug hatten sagen können. Die Menschen, die zu Grace Cathedral gehörten, waren weiße Amerikaner, Asiaten, Südamerikaner, Afroamerikaner, reich oder arm. Bei all ihren vielen Unterschieden hatten sie eines gemeinsam: ihren Pastor, Jack Chisholm.

      Aber heute, wenn es Zeit war für die Weihnachtspredigt, würden die Gemeindeglieder aufs Podium – oder auf die gigantischen Bildschirme – sehen, und sie würden dort Danny Pierce erblicken, den zweiten Pastor, der sich anschickte, die Predigt zu halten. Sie würden sich fragen, wo Jack Chisholm war, warum er sie im Stich gelassen hatte, wie er sie so unglaublich enttäuschen konnte.

      Sie würden sich fragen, was nun geschehen würde.

      Jack hatte selbst keine Idee, was nun geschehen würde; er ahnte nur das Schlimmste, zumindest, was ihn selbst betraf. Er hatte noch so gerade eben seinen Kopf über Wasser zu halten vermocht, seit vor sechs Wochen alles bekannt geworden war. Aber er fürchtete, dass es nun rasch dem Ende zuging. Das Einzige, was Jack davon abhielt, sich vom Balkon in die tosende Brandung zu stürzen, war der Tequila, den er sich einschenkte, sobald er wieder wach wurde. Dann konnte er wenigstens versuchen zu vergessen.

      Wenigstens versuchen.

      Er griff unter die Liege und fand den vermutlich letzten Rest des Tequilas, den er gekauft hatte, bevor die Gemeinde seine Kreditkarte gesperrt hatte. Er schraubte die Kappe ab und setzte die Flasche an den Mund.

      Dies war der erste Drink des Tages. Die klare Flüssigkeit rann weich und wohlig seine Kehle hinunter. Tequila war ein Vorschlaghammer, den man in Samt eingeschlagen hatte, dachte er und lächelte zufrieden, bevor er einen weiteren Schluck nahm.

      „Fröhliche Weihnachten!“, flüsterte er.

      Er steckte die Hand in die Tasche seines Pyjamas und spürte sein Smartphone, das wundersamerweise noch Verbindung zum Netz hatte. Vielleicht hatte die Gemeinde noch nicht gemerkt, dass sie nach wie vor dafür bezahlte; vielleicht wollte man auch großzügig sein. Egal. Das Smartphone war seine einzige Verbindung zur Außenwelt und es funktionierte.

      „Ruf zu Hause an“, sagte er sich. Die Nummer leuchtete auf, aber wie in den letzten fünf Wochen begrüßte ihn nicht Tracy, seine Frau, sondern eine elektronische Ansage und ein Piepton.

      Es machte ihn ärgerlich, aber nach einem Augenblick holte er tief Luft und hinterließ eine weitere Nachricht. „Tracy“, sagte er, „falls das noch dein Telefon ist … falls du diese Nachricht überhaupt hörst … Es ist Weihnachten. Weihnachtsmorgen.“ Die Stimme versagte ihm und er musste ein paar Tränen wegblinzeln, bevor er sich wieder im Griff hatte. „Ich habe mich nur gefragt, was Alison dieses Jahr von Santa bekommt“, sagte er viel forscher, als ihm zumute war. Alison war ihre Tochter, sie war acht und das Beste, was er je zustande gebracht hatte (wenn er das auch nie laut ausgesprochen hatte, da war er sicher). Der Gedanke – der Gedanke an sie – ließ seine Stimme wieder stocken. „Nein. Ich frage mich, ob du je wieder mit mir sprichst. Tracy, ich glaube, wenn du nur wieder mit mir reden würdest …“

      Könnten wir alles in Ordnung bringen?

      Könnte ich es dir erklären?

      Es gab nichts, was er hätte sagen können. Er unterbrach die Verbindung und starrte dann auf das Handy, als berge es ein Geheimnis.

      Die Dinge waren schon lange nicht mehr in Ordnung gewesen. Er war kein Mensch, der andere zu nah an sich herankommen ließ; Beziehungen waren nicht seine Stärke. Was er gut konnte, war seine Arbeit; das Einzige, das sich spürbar und rasch auszahlte. Sein ganzes Leben lang hatte er immer wieder Dinge verloren, und vielleicht hatte das in ihm die Furcht davor geweckt, zu sehr zu lieben. Aber das hieß nicht, dass er keine Liebe empfand und dass er seine Familie nicht vermisste.

      Es hieß nicht, dass er sich im Moment anders als vollkommen verloren vorkam.

      Letztes Jahr Weihnachten hatte Jack auf dem Podium der Hauptarena von Grace Cathedral gestanden, zwischen Tracy und Alison, die in roten Samtkleidern fantastisch aussahen, und sie hatten gelächelt und Weihnachtslieder gesungen.

      Letztes Jahr um diese Zeit war er mit seiner Familie zusammen gewesen.

      Die acht Mitglieder der Lobpreisband hatten ihre Rockversion von „O komm, o komm, Immanuel“ beendet, und er hatte Tracy und Alison an der Hand genommen, wie er es jeden Sonntag tat, und sie nach einem Händedruck entlassen. Dann war er langsam und entschlossen die zwölf Stufen zum Rednerpult emporgestiegen.

      Oben verharrte er einen Moment mit gesenktem Kopf. Jack liebte diesen Moment, bevor er seine Predigt begann, liebte den Moment, bevor er harte Worte an die Welt richtete, die ihn dafür liebte. Er ließ die Hand auf dem blanken Eichenholz des geräumigen Rednerpults ruhen, blickte kurz auf die Predigtnotizen auf seinem iPad, und dann lenkte er seinen Blick auf die viertausend Menschen, die sich hier in diesem exquisit renovierten ehemaligen Kaufhaus eingefunden hatten. Noch einmal so viele feierten in den beiden anderen Arenen in der Stadt den Gottesdienst, wo sie ihn per Video-Übertragung sehen konnten. Und noch zahllose andere sahen ihn per Live-Übertragung im Fernsehen oder auf dem Webcast der Gemeinde.

      Ein Jahr zuvor hatte der „Guardian“ Jack einen „Herzenspastor“ genannt. Obwohl das eine Zeitung für eher links orientierte Briten sein mochte, so lag sie doch nicht ganz falsch. Wenige Pastoren in Amerika hatten ein größeres Publikum für ihre Predigten. Wenige hatten eine größere Anhängerschaft, die mit Interesse alles aufnahm, was sie schrieben. Jacks Worte schienen perfekt zusammenzustimmen mit den amerikanischen Werten von harter Arbeit, Leistung, Selbstperfektionierung und Schuldgefühlen.

      Es war die perfekte Verbindung von Bote und Botschaft.

      Hinter ihm leuchteten auf den Riesenbildschirmen die Worte auf: „Wir beten.“ Er schloss jetzt die Augen und verharrte im Schweigen, bis er das Schweigen der Menge spürte, bis er spürte, wie jene ungezählten Tausende hier und überall sonst an jedem seiner Worte hingen.

      Dann erst sprach er, und seine warme, volltönende Stimme erfüllte jene weiten Räume und liebkoste all die aufnahmebereiten Gemüter. „Gott, unser Vater. Du hast uns geschaffen. Aber wir sind gefallen, Opfer unserer eigenen Sehnsüchte. Du liebst uns, aber wir haben dir den Rücken gekehrt. Du hast uns Propheten gesandt, die uns lehrten, Recht und Unrecht zu unterscheiden, aber wir wählten das Unrecht, immer und immer wieder. Du gabst uns dein heiliges Wort, damit wir deinen Willen erkennen könnten, aber wir haben ihn ignoriert, ignorieren ihn noch immer. Heute vor zweitausend Jahren hast du deinen Sohn gesandt, Jesus Christus, um uns zu zeigen, wie das Leben aussieht, das du dir für uns wünschst – und wir haben ihn dafür umgebracht.

      Mit jedem Schritt versagen wir und fallen erneut. Immer tiefer sind wir gefallen, bis der Abstand zwischen uns unglaublich und unerträglich wurde. Wir haben uns so weit von dir entfernt, haben uns selbst durch unsere Sünde und unser Verlangen ruiniert, haben uns selbst so sehr verloren, dass wir dich kaum noch sehen. Und warum solltest du uns sehen wollen? Wir enttäuschen dich, wieder und wieder und immer wieder enttäuschen wir dich.“

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