Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Katharina Bock
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In dieser ökonomisch und zweckorientiert argumentierenden Gemeinschaft erscheint der Rabbiner Philip Moses als ein Fremdkörper. Seine Rede ist stets auf die Hebräische Bibel bezogen, vermischt sich immer wieder mit direkten Zitaten aus dem Alten Testament,1 zumeist aus den Prophetenbüchern, und seine eigenen Worte klingen selbst wie Prophetie, in denen bereits das Donnern des Jüngsten Tags anklingt, wenn er zum Beispiel ausruft:
„Elendige Søn […] fordømt være den Aand, som taler gjennem din Mund! […] Fordømt være det Gods og det Liv, hvorfor du vil sælge dine Fædres Tro […]! – Fordømt være den Sikkerhed og Fred, hvorfor du forraader Jehova! – fordømt den Handel og Vandel, som har gjort Guds Folk til Slaver af Mammon og til Guldkalvens afsindige Tilbedere!“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 100)
Elender Sohn, verflucht sei der Geist, der durch deinen Mund spricht! Verflucht sei das Habe und das Leben, für das du den Glauben Deiner Väter verkaufen willst! Verflucht seien die Sicherheit und der Frieden, für den du Jehova verrätst – verflucht der Handel und Wandel, der Gottes Volk zu Sklaven des Mammon und zu wahnsinnigen Anbetern des Goldenen Kalbes gemacht haben!
So herrscht Samuel ihn unbeeindruckt und ungeduldig an: „Du taler over dig, Gamle! […] og forstaaer dig ikke paa at føie dig i Tiden. Du er gammel og hænger ved det Gamle; men dine Propheters Tider ere s’gu forbi [Du bist außer dir, Alter! und verstehst es nicht, dich in die Zeit zu fügen. Du bist alt und hängst am Alten; aber die Zeiten deiner Propheten sind nun vorbei]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 100), und so fordern auch die anderen Juden: „Bort, bort med den gamle Prophet! [Weg, weg mit dem alten Propheten!]“ (Ingemann 2007: 104). Philip Moses erfährt also innerhalb seiner eigenen Gemeinschaft eben jene Ausgrenzung, vor der die anderen Juden sich zu schützen suchen. Was Philip Moses in seiner eigenen Familie zum Objekt des Spotts macht, schützt ihn wiederum, als er inmitten der Hep-Hep-Krawalle das Haus seines Sohnes verlässt, weil der innerjüdische und innerfamiliäre Konflikt, der im Moment der Bedrohung von Außen seinen Höhepunkt findet, für ihn nicht mehr zu ertragen ist. Dem steinewerfenden Pöbel auf der Straße gilt Philip Moses hingegen als „ærlig Mand – ham er det Synd at røre ved eller spotte [ehrlicher Mann – ihn anzurühren oder ihm zu spotten ist Sünde]“ (Ingemann 2007: 105). So lassen sie ihn unversehrt passieren.
2.3.2 Ausgrenzung II: Im Hause des assimilierten Juden
Begleitet wird Philip Moses von Benjamine, seiner fürsorglichen und frommen Enkelin, die ihm als einzige ihre ungebrochene Loyalität und Liebe entgegenbringt. Benjamines Mutter Rahel, die Tochter des alten Rabbiners, ist früh verstorben, und da Benjamine auch keinen Vater mehr hat, lebt sie abwechselnd bei ihren beiden Onkeln Samuel und Isaak. In der Novelle wird nicht ausdrücklich erwähnt, dass der Vater ebenfalls verstorben ist, doch ist davon auszugehen, da Benjamine „fader- og moderløs [vater- und mutterlos]“ ist (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 106). Bemerkenswert ist diese unkommentierte Leerstelle insofern, als dem Vater offenbar keine Bedeutung beigemessen wird. Die Figur des weisen Patriarchen ist durch den alten Rabbiner abgedeckt, die negativen jüdischen Figuren durch die beiden Söhne des Rabbiners. Die verstorbene oder abwesende Mutter ist Teil des Narrativs von der ‚schönen Jüdin‘ und findet sich in fast allen anderen Texten dieser Analyse wieder.1 Der abwesende Vater, der weder als negativ konnotierter „Geldjude“ noch als alter Patriarch dargestellt werden muss, da diese Figuren bereits besetzt sind, hat keinen literarischen Kontext, in den er sich einschreiben könnte, und bleibt somit unerzählt.
In der Kälte der Herbstnacht überredet Benjamine ihren Großvater, mit ihr zu Isaak zu kommen, mit dem ihr Großvater seit fünf Jahren kein Wort mehr gesprochen hat, seit Isaak eine Christin geheiratet hat. Da Philip Moses und Benjamine sonst keinen Zufluchtsort haben, suchen sie nun Schutz bei Isaak und seiner Frau. Die Ehe zwischen einem Juden und einer Christin ist in der Literatur, im Gegensatz zu der umgekehrten Konstellation, ein äußerst seltenes Ereignis. Wo angedeutet, zum Beispiel in LessingsLessing, Gotthold Ephraim Die Juden, findet sie keine Erfüllung (vgl. Lezzi 2006: 61–62, 2013: 67–72). Vor allem aber ist bemerkenswert, dass der jüdische Mann vor der Eheschließung nicht zum Christentum konvertiert ist. In der umgekehrten und weitaus üblicheren literarischen Konstellation, der Liebesbeziehung zwischen einer jüdischen Frau und einem christlichen Mann, ist dies nämlich nahezu immer Vorbedingung (vgl. Krobb 1993; Lezzi 2013). IngemannIngemann, Bernhard Severin orientiert sich in diesem Fall also offenbar am damals geltenden dänischen Recht, das für die Eheschließung zwischen Jüd*innen und Christ*innen keine Konversion voraussetzte (vgl. Schwarz Lausten 2012: 192–193). In Den gamle Rabbin ist jedoch wahre Liebe an wahre Religiosität gekoppelt, was beides in der Ehe zwischen Isaak und seiner Frau nicht gegeben ist. So ist diese Ehe weder erfüllt von Liebe, noch stellt sie eine wahrhaft interreligiöse Verbindung dar, denn beide Eheleute haben sich, wie ich im Folgenden zeigen werde, von ihrer Religion ab- und dem Säkularismus zugewandt.