Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Katharina Bock
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Auch im Haushalt seines zweiten Sohnes Isaak fehlt es also an Wärme und Liebe ebenso wie am Glauben an Gott, auch hier wird Philip Moses gewaltvoll von seiner eigenen Familie und Gemeinschaft ausgegrenzt. Während draußen vorm Hause Samuels der „hamborgske Pøbel [hamburgische Pöbel]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 105) die geschäftstüchtigen Juden bedroht, sind im Hause Isaaks Christen und Juden in ihrer areligiösen Gefühlskälte miteinander vereint. Obwohl „Christen“ genannt, ist mehr als deutlich, dass diesen Christen jegliche Form der Nächstenliebe fremd ist. Auch der Respekt vor dem alten Rabbiner fehlt ihnen, als sie einander spöttisch fragen: „Hvem er den underlige Gamle? – han taler jo som en Bibel [Wer ist der wunderliche Alte? – Er redet ja wie eine Bibel]“ (Ingemann 2007: 113). So stellt sich in der Novelle der Konflikt nicht zwischen Juden und Christen dar, sondern zwischen aufrichtigem Glauben und Gottesferne. Gottesferne führt stets zu Ausgrenzung, die in der Novelle durch die wiederholten Ortswechsel erzählt wird, zu denen Großvater und Enkelin genötigt sind. Kritik richtet sich nicht gegen eine der beiden Religionsgemeinschaften, sondern gegen die Säkularisierung. Die Jüdin und der Rabbiner als idealisierte Figuren in diesem philosemitischen Konstrukt sind die Opfer dieser Verweltlichung, die Opfer einer Gesellschaft, die seit der Aufklärung einen rasanten Wandel vollzieht.
Konfessionelle Beliebigkeit und Konversion aus Kalkül sind Vorwürfe, die auch aus späteren Werken IngemannsIngemann, Bernhard Severin herauszulesen ist. So weist Mogens Brøndsted darauf hin, dass die Konversion zum Christentum, wie sie „Heinrich Heine og konsorter [Heinrich Heine und Konsorten“] (Brøndsted 2007b: 16) vollzogen haben, von Ingemann in seinem Drama Renegaten [Der Renegat; 1838] (1853a) kritisch karikiert wird. „Derimod havde Ingemann respekt for den gammeljødiske ånd, som det ses af fortellingen ‚Den gamle Rabbin‘ [Hingegen hatte Ingemann Respekt vor dem altjüdischen Geist, wie an der Erzählung ‚Den gamle Rabbin‘ zu sehen ist]“ (Brøndsted 2007b: 16). Doch dieser „altjüdische Geist“ ist ein Phantasma, der einer christlichen Wunschvorstellung vom Judentum entspringt. Die Texte Ingemanns schreiben sich in die vorherrschende Religionsauffassung der deutschen Romantiker ein, wie der Germanist Wolf-Daniel Hartwich in seiner Monografie Romantischer Antisemitismus (2005) dargelegt hat:
Die Romantiker beklagen in der Gegenwart den allgemeinen geistig-religiösen Niedergang der westlichen Kultur durch ihre Säkularisierung, Kapitalisierung und Industrialisierung. Das Judentum habe diesen Prozeß nicht bewirkt, fördere diesen aber und profitiert [sic!] von ihm. Die romantische Apokalyptik vollzieht keine dualistische Konfrontation mit dem Judentum. Vielmehr wird in der jüdischen Überlieferung selbst[,] als der ältesten göttlichen Ursprungs[,] das genetische Potential der Erlösung gesehen. Die jüdische Urgeschichte wird dabei in die christliche Kunstreligion transformiert. (Hartwich 2005: 27)
Neben den opportunistischen Juden dieser Novelle sind es also einzig Philip Moses und Benjamine, die eine aufrichtige Nähe zu Gott und damit „das genetische Potential der Erlösung“ repräsentieren. In ihren Figuren verschränken sich Konzepte von Religiosität, Geschlecht und Alter hierarchisch: Während Philip Moses’ Handeln stets auf Gott bezogen ist, ist Benjamine mit ebensolcher Innbrunst auf ihren Großvater bezogen. Während Philip Moses Gott gegenüber absolut loyal ist, ist Benjamine ihrem Großvater gegenüber vollkommen loyal. Doch bietet die Novelle Benjamine noch einen anderen religiösen Weg an, der sie zunächst in große Gewissensnöte bringt: den jungen christlichen Maler Veit.
2.3.3 Ankommen: Im Hause der guten Christen
Veit hat seinen Weg als Sohn des Hausarztes in die Familie von Isaak gefunden und unterrichtet dort als „Tegnemester; men hvad der drog ham did var især Benjamines skjønne Ansigt, der havde et særdeles Interesse for ham som Kunstner [Zeichenmeister; doch was ihn dorthin zog, war insbesondere Benjamines schönes Gesicht, das für ihn als Künstler von besonderem Interesse war]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 112). Auch ihr gibt er hin und wieder Zeichenstunden und steht nun, während Philip Moses in einem Sessel in der Ecke sitzt,
ved Vinduet og talte med Benjamine om den gamle ærværdige Bedstefader, som han strax havde bemærket og hilset med den Ærbødighed, hans Alder og ædle Udseende opvakte, og over hvis skjønne patriarkalske Oldingshoved han ret havde glædet sig. (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 112)
am Fenster und sprach mit Benjamine über den alten ehrwürdigen Großvater, den er sogleich bemerkt und mit der Ehrerbietung gegrüßt hatte, wie sein Alter und edles Aussehen es verlangten, und über dessen schönes patriarchalisches Greisenhaupt er sich recht gefreut hatte.
Als einziger der Hausgäste begegnet Veit ihm mit Freundlichkeit und Wärme und empfindet ihm gegenüber schnell eine ebenso große Zuneigung wie gegenüber Benjamine. Das Fenster, an dem er mit Benjamine steht, fungiert hierbei als Erkenntnismetapher, die den jungen Maler gegenüber den anderen Gästen, die sich in der Tiefe des Raumes befinden, aber auch gegenüber Philip Moses, der allein in einer Ecke sitzt, auszeichnet.
Als Philip Moses und Benjamine auch das Haus des zweiten Sohnes verlassen, weil Philip Moses die Kälte und Respektlosigkeit dort nicht mehr erträgt, und Benjamine „fulgte grædende efter ham [ihm weinend folgte]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 114), erweist sich Veit als ihr Retter. Er schützt sie vor weiteren judenfeindlichen Übergriffen durch gewaltbereite Christen und bringt sie in das Haus seines Vaters, wo Philip Moses noch auf der Türschwelle zusammenbricht und in ein langes Fieber und einen tiefen Schlaf fällt. Die Türschwelle zum Haus des Christen ist ein