14 Falken. Kathrin Schobel
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Gwen muss sich konzentrieren, denn die Ratte redet schnell, während sie rückwärtsläuft. Die Art, wie sie spricht, ist ein grotesker Hybrid aus zwei Dingen, die Gwen kennt: das überhebliche Gesäusel von Schwerverbrechern in den Momenten, in denen sie sich unbesiegbar fühlen und das mechanische Bandgespule einstudierter Falschaussagen von Zeugen, die sie Wort für Wort bei jeder Befragung wiederholen, bis jemand in genau dieser Perfektion den einzigen echten Fehler entdeckt. Gwen setzt den Inhalt der Worte in ihrem Kopf zusammen und stellt mürrisch fest, dass die Schabe zumindest mit dem letzten Part des Monologs recht hat. Als würde sie jemand von hinten schieben, stemmt sie ihre Füße in den Boden und bemüht sich um eine schlagfertige Antwort.
»Weißt du, was du übersehen hast, Sherlock?«, beginnt sie und weiß jetzt schon, dass ihre ungeübte Zunge nicht einmal halb so gut kontern kann, wie es nötig gewesen wäre. »Dass du meine Kohle immer noch nicht rausgerückt hast. Vielleicht, aber auch nur vielleicht, ist das der Grund, warum ich dir folge.«
Der Strom wird zum Draht. Der Draht wird zu Stahl. Der Stahl wird zum Messer.
»Du wolltest doch einen Grund, mich nicht zu verpfeifen, richtig?«
Ihr Ton macht Gwen noch misstrauischer, als sie sowieso schon ist. Er war eine offene Einladung. Jetzt ist er eine Drohung.
»Sag bloß, du hast mein Geld hier im Dreck versteckt?«
»Kann man so sagen«, antwortet der Falke und zieht einen Mundwinkel hoch.
Gwen fällt erst jetzt auf, dass sie etwas in der Hand hat. Das Bündel Papier sieht nicht gefährlich aus, aber in etwa 250€ wert. Keiner von beiden rührt sich.
»Wenn du jetzt da raus rennst, muss ich nur rufen, hier sind drei aus meiner Wache auf Streife«, lügt Gwen drohend und sucht in der Körperhaltung des Gegenübers nach Anzeigen von Fluchtreflexen. Die Prinzessin zeigt keine.
Für einen Moment fühlt sich Gwen, als könne sie einfach auf sie zu spazieren und ihr das Geld aus der Hand nehmen. Aber sie kennt das hochnäsige fliegende Kriechtier besser. Wenn der Falke etwas plant, hat sie ein geübtes Pokerface, aber ein Feuer in den Augen so klar, dass Gwen sich ihre Zigarette daran anzünden könnte. Die, die sie schon angesteckt hat, erinnert Gwen schmerzhaft an ihre Existenz. Sie zieht die Luft ein und lässt den abgebrannten Stummel auf den feuchten Stein fallen. Der Falke will diese Chance nutzen und rauscht an ihr vorbei, aber Gwen hat sie am Arm gepackt, bevor sie sich in Sichtweite der Passanten werfen kann. Sie hat die Kleine herumgewirbelt, bevor sie an ihr vorbei aus der Sackgasse sprinten kann. Und sie will ihre Hand auf ihrem Mund haben, bevor sie um Hilfe rufen kann, aber hat stattdessen einen grinsenden Mund auf ihrem eigenen. Ihr rechter Arm stößt die Ratte von sich, aber die Linke hält sie fest, was darin endet, dass ihr Gesicht Gwens Faust mit einem schwungvollen Rückstoß entgegenkommt.
»Ah – Scheiße!«, flucht sie und presst sich beide Hände auf die Nase. Gwen sieht, wie sich das Geld langsam mit Blut vollsaugt und greift schnell wie ein Raubvogel nach den Scheinen, ohne Erfolg. Die Schabe entkommt ihr und zieht die Nase hoch, und Gwen fragt sich, wie viele Tierspitznamen sie für die Diebin wohl noch finden kann. Die eilt schnell und leise zum Ende der Gasse. Wiesel.
Gwen sprintet grobmotorisch hinter ihr her, erwischt beinahe den Zipfel ihres T-Shirts, aber wird abgehängt, als die Prinzessin über zwei Mülltonnen klettert und sich auf ein Vordach schwingt. Straßenkatze.
Gwen flucht, doch ist machtlos. Nicht, dass sie den Weg auf die Steinmauer nicht schaffen würde. Aber sie würde länger brauchen und weiß nicht, was sie dahinter erwartet. Das blutende Miststück dagegen scheint sich bestens auszukennen. Stadtratte.
So gut, dass sie Zeit findet, sich auf der Mauer stehend beinahe lasziv das Blut von der Oberlippe zu lecken.
»War nett. Für‘s nächste Mal brauchen wir aber dringend ein Safe Word.«
Gwen wünscht sich, sie hätte dem Drang mit der Restmülltonne nachgegeben und antwortet mit einem Mittelfinger. Die Kleine macht einen Salut, verschwindet hinter der Mauer, und Gwen würde auf der Stelle anfangen, an Gott zu glauben, wenn der dafür sorgen würde, dass der Falke auf der anderen Seite nicht mehr lebendig ankommt.
5 I
Es herrscht normaler Betrieb kurz vor Schluss. Gwen fragt sich, ab wann es für Polizeibeamte vertretbar ist, seine ständigen Besuche in immer der gleichen Bar mit spektakulären Geschichten von streng geheimen Undercover-Einsätzen zu rechtfertigen. Wann und ob es überhaupt jemals vertretbar ist hätte sie sich eigentlich überlegen sollen, bevor sie ihren Kollegen damit abgespeist hat, der sie vom Fitnessstudio bis zur Spiel-bar mitnahm. Morgen würden alle im Präsidium zu wissen glauben, dass sie als Taxifahrerin Simone Hobel einem Mann auf den Zahn gefühlt hat, der einen ganz besonderen Wellness-Club betreibt, in dem jede Dame angeblich freiwillig arbeitet, zufällig aber nie eine anzutreffen ist, die Deutsch spricht oder sich ausweisen kann. Mitwissendes Augenzwinkern und das wie zufällig wirkende Streifen von Ellbogen würde sie durch den Tag begleiten. Je mehr Gwen darüber nachdenkt, desto mehr wird ihr klar, dass sie das mit den theatralischen Lügereien lieber denen überlassen sollte, die es besser können.
Die Knöchel ihrer rechten Hand sind seit dem Gassendrama leicht angeschwollen, sie ist unruhig und knobelt schon den ganzen Tag wieder an den Kordeln ihrer Jacke. Eigentlich nur an der rechten, die am Ende schon ausgefranst ist. Gwen hat sich am Vorabend die Erleichterung eingestehen müssen, dass der Falke nicht auf die Idee gekommen ist, sie in der Gasse anzumachen, bevor ihr erster Reflex gewesen war, ihr dafür die Nase zu brechen. Das hätte schlecht ausgehen können, für ihren Ruf und ihr Selbstwertgefühl jedenfalls. Gwen denkt an den Whiskey und drückt immer wieder die Zunge gegen den Gaumen. Er ist samtig und schmeckt nach Erde und Kräutern und Blut und irgendwie glaubt Gwen, dass es so schmecken würde, wenn man eine homöopathische Zahnbehandlung hat. Im Dunkeln von Gwens Wohnung hat der Falke seine Augen nicht gebraucht, aber hätte er welche an der Zungenspitze, würde sie jetzt jede einzelne Unebenheit von Gwens Zähnen rechts und links und vor der Zunge kennen. Unsichtbare Fingernägel kribbeln über ihren Rücken wie Spinnen, und auf ihrer Unterlippe pocht der Phantomschmerz einer Bisswunde, die nicht mehr da ist. Die Schabe hat es drauf, so mit Gwens Schmerzempfinden zu spielen, dass die es vermutlich sogar genießen würde, wenn sie ihr mit der Zungenspitze jede Zahnwurzel einzeln rauszieht, um sie mit ihrem Geschmack zu ersetzen. Gott schuf den Menschen aus Lehm, also kann er dem Menschen auch mit Lehm einen Wurzelkanal stopfen.
Gwen macht nicht den Fehler, ihre Jacke an die Garderobe zu hängen. Sollte das Miststück wirklich wieder hier auftauchen, wäre sie schneller verschwunden, als Gwen gucken kann. Stattdessen zieht sie sie aus und klemmt sie sich unter den Arm. Sie kann den Fasern ihres Pullovers dabei zuhören, wie sie sich elektrostatisch aufladen, wie sie die rauchige Luft aufsaugen, konservieren und den Pulli zweiter Hand unverkäuflich machen.
»Was kann ich dir bringen?«, fragt die Barkeeperin.
Gwen überlegt, ob sie direkt fragen soll. Die Angestellte sieht jung aus, natürlich gebräunt und hübsch, und hat sich sichtlich Gedanken darüber gemacht, was sie zur Arbeit tragen kann, damit es eine gute Mischung aus sexy und einschüchternd ergibt, um Kunden anzulocken und gleichzeitig von sich fern zu halten. Vermutlich Studentin. Und im Gegensatz zu den ausgebrannten Montags- bis- Mittwochern ist sie aufmerksam. Entweder sie ist neu, oder arbeitet nie an den Tagen, an denen Gwen hier ist.
Gwen beobachtet sie, wie sie beobachtet, und sagt