Trugbilder. Ella Danz
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»Ach, du bist das, Marten«, sagte sie betont gleichgültig, wohl wissend, dass ihr Erröten nicht zu übersehen war, »hab dich mit der neuen Frisur fast nicht erkannt.«
Was für eine blöde Bemerkung! Bis auf den hervorlugenden Zopf ließ der Fahrradhelm gar keinen Blick auf sein Haar zu. Vicky hätte sich ohrfeigen können! Aber Marten ging darauf gar nicht ein.
»Mensch, sag mal, wie lange ist das her, dass wir uns gesehen haben?«
Vicky hob unentschieden die Schultern. Sie konnte sich immer noch sehr gut erinnern, wann sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, auch wenn das ungefähr drei Jahre her sein musste. Das war, als ihre Schwester bei Marten aus- und bei ihrem nächsten Freund eingezogen war. Aber alle Erinnerungen an die Zeit damals und besonders an Marten hatte sie in die hinterste Ecke ihres Gedächtnisses verbannt. Zu viel Kummer und Enttäuschung waren für Vicky damit verbunden, und für manches schämte sie sich noch heute.
Marten schaute sie an. Immer noch hatte er diesen Blick, der suggerierte, dass man das Einzige auf dieser Welt war, das ihm wichtig war, dem er seine ganze Aufmerksamkeit schenkte. Und wieder spürte sie, genau wie damals bei jedem Mal, wenn sie mit ihm zusammen traf, wie ihr die Knie weich wurden.
»Wie geht’s dir, Vicky? Wohnst du hier? Was machst du?«
»Äh …«, sie musste erst einmal ihre plötzlich belegte Stimme wieder freikriegen.
»Ja, ich wohne hier in einer Wohngemeinschaft. Alles gut bei mir. Ich mach eine Ausbildung zur sozialpädagogischen Assistentin, und nebenher erwerbe ich die Fachhochschulreife, weil ich anschließend noch studieren will«, spulte sie ab, als ob sie in einem Bewerbungsgespräch säße.
Der junge Mann lächelte, spöttisch, wie sie sofort dachte. War ja auch zu peinlich, wie sie reagierte.
»Ich hab jetzt keine Zeit, aber lass uns doch bald mal einen Kaffee zusammen trinken. Hast du noch meine Handynummer?«
»Weiß ich nicht.«
Natürlich hatte sie die nicht gelöscht.
»Also, wenn deine noch die alte ist, müsst ich die noch haben.«
»Ist die alte. Aber ich muss jetzt echt los. Tschüs, Marten.«
Vicky fummelte an ihrem Fahrradhelm, ohne ihn aufzusetzen. Mit dem Ding fand sie sich total doof.
»Super, ich melde mich! Tschüs, Viktoria Johanne, hat mich echt gefreut.« Marten zwinkerte ihr zu, schwang sich auf sein Rad, und weg war er. Auch Vicky setzte ihren Helm auf und fuhr los. Zwei Minuten später bemerkte sie, dass sie in die falsche Richtung fuhr. Oh Mann, sie war ganz schön durch den Wind! Sie musste ja bei der Kardiologenpraxis vorbeifahren, wo Mia heute durchgecheckt werden sollte. Vicky sollte sich Karolines Hausschlüssel abholen, weil Mia erst heute Morgen bemerkt hatte, dass sie ihr Handy in der Wohnung vergessen hatte. Und sie hatte Vicky gebeten, es ihr von dort gleich vorbeizubringen, damit sie auch direkt mitbekam, wenn Karoline sich endlich meldete. Eigentlich fand Vicky das total übertrieben. Ob Mia das Handy nun drei Stunden früher oder später wieder hatte, meine Güte, das änderte doch wirklich nichts! Aber Mia klang so völlig aufgelöst, dass Vicky gar nicht anders konnte.
Von der Arztpraxis fuhr sie also zu der Adresse in der Nähe vom Brink. Sie war nur kurz nach Karolines Einzug einmal in der Wohnung ihrer Schwester gewesen. Es gab jetzt noch ein neues weißes Ledersofa und einen Schminktisch mit einem riesigen, von Glühbirnen umrahmten Spiegel, den Vicky noch nicht kannte. Darüber hing ein professionell gestaltetes Plakat mit einem Porträtfoto von Karoline, riesengroß. Außerdem standen ein paar unterschiedliche Stative herum, daneben zwei Studioleuchten – der Wohnraum und die angrenzende offene Küche waren zum Aufnahmestudio umfunktioniert worden. Vicky hatte schon lange nicht mehr durch Karolines Instagram-Profil gescrollt. Sie hatte durch Arbeit und Ausbildung sehr wenig Zeit, und die Videos ihrer Schwester über Mode, Work-outs, Schminktipps und kalorienarmes Kochen waren nicht so ganz ihre Welt.
Die Küche war sehr aufgeräumt, wirkte ziemlich unbenutzt, auch ein kleines Zimmer, das wohl als Büro diente, sah mit seinen Ordnern, der sortierten Post und dem ordentlichen Schreibtisch gut organisiert aus. Im Schlafzimmer dagegen herrschte Klamottenchaos – das war schon immer so gewesen. Überall lagen Schuhe, Unterwäsche und Kleider herum, dazwischen Pakete von den Modelabels, mit denen Karoline Werbeverträge hatte, die zum Teil noch gar nicht ausgepackt waren. So, wie es aussah, filmte sie sich ständig und immer, ihr ganzer Alltag war öffentlich. Auch im Schlafzimmer stand ein Stativ. Ein solches Leben konnte Vicky sich überhaupt nicht vorstellen. Aber Karoline war schon immer sehr zielstrebig und gleichzeitig kontrolliert gewesen. Sie wollte Karriere machen, berühmt werden, viel Geld verdienen, das waren ihre Ziele. Sie hatte einen Businessplan, dem sie alles andere unterordnete.
Finanziell schien es Karoline ja wirklich ganz gut zu gehen. Sie fuhr ein eigenes Auto, und in dieser Wohnung, die sie offenbar allein bewohnte, war alles schicker und neuer als in Vickys Wohngemeinschaft, deren bunt möblierten Zimmern und der gemütlichen Küche, in der sie oft zusammen kochten oder mit Freunden bis tief in die Nacht klönten – aber irgendwie kam es Vicky hier auch ziemlich unpersönlich vor, und gemütlich war es schon gar nicht. Ob Karoline glücklich war? Sie sahen sich zu Ostern, an Weihnachten und zum Geburtstag ihrer Mutter, selten mal dazwischen. Im Grunde hatte Vicky keine Ahnung, wie es ihrer Schwester ging.
In einem kugeligen Glas auf dem Tresen zwischen Küche und Wohnraum zog ein einsamer Goldfisch seine Runden. So ein Fisch zur Dekoration – was für eine Tierquälerei! Schnell wechselte Vicky das Wasser für das arme Tier. Neben dem Goldfischglas lag ein aufgeklappter Laptop. Mias Handy fand sich in der Küche auf einer Arbeitsplatte neben dem Kühlschrank. Automatisch drückte Vicky den Home Button. Es waren keine neuen Nachrichten oder Anrufe eingegangen. Sie packte das Teil ein und ging zum Ausgang.
»Guten Morgen«, grüßte der große Mann, der aus der gegenüberliegenden Wohnung kam, als sie gerade die Wohnungstür abschloss.
»Guten Morgen«, murmelte Vicky.
»Ist Frau Frederiksen inzwischen zurück?«
Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu. Er hatte dichtes dunkles Haar und einen Dreitagebart, sah eigentlich ganz freundlich aus. Aber was wollte der? Kannte er Karoline besser? Er bemerkte scheinbar ihr Zögern.
»Vorgestern Nachmittag ist mir die Mutter von Frau Frederiksen begegnet«, erklärte er. »Sie schien sich Sorgen zu machen, weil ihre Tochter nicht, wie verabredet, am Montag von einer Reise zurückgekommen ist. Deshalb frage ich.«
Ach stimmt, Mia hatte ja schon der ganzen Nachbarschaft ihre übertriebenen Befürchtungen mitgeteilt.
»Nein, Karoline ist noch nicht zurück. Aber das kommt öfter vor, dass meine Schwester ihre Pläne ändert und sich nicht meldet.«
»Ach so. Na dann …«
Der Nachbar zögerte kurz. Er schien nachzudenken. Schließlich sagte er:
»Mein Name ist Angermüller. Ich bin bei der Kriminalpolizei. Ihre Mutter schien mir sehr beunruhigt wegen des Ausbleibens von Karoline.«
Er holte eine Karte aus der Brusttasche seiner Jacke und überreichte sie Vicky.
»Sollte Ihre Schwester nicht bald auftauchen, kann Ihre Mutter sich gern bei mir melden, wenn sie vielleicht eine Vermisstenanzeige aufgeben will.«
Vicky