Trugbilder. Ella Danz
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»Deine große Schwester kann eben Prioritäten setzen. Tonya will was aus sich machen, im Gegensatz zu dir.«
»Hat dich jemand um deine Meinung gebeten?«
Nur kurz richtete Vicky einen kalten Blick auf Ralf Ziegner, der am Kopfende saß, vor sich eine gewaltige zweite Portion Schweinebraten.
»Glaubst du, ich lass mir von dir in meinem eigenen Haus den Mund verbieten? Ausgerechnet von dir?«
Kurz überlegte Vicky, ihm eine passende Antwort zu geben. Aber es hatte keinen Sinn, und eigentlich wollte sie das auch nicht. Nicht, dass Vicky Angst gehabt hätte, mit ihm zu streiten, ihm an den kahl rasierten Kopf zu werfen, was für ein Idiot er war. Liebend gern hätte sie das getan. Aber sie wusste, wie sehr ihre Mutter unter diesen Auseinandersetzungen litt, die eh nichts brachten außer schlechter Stimmung. Sie hatte sich schon oft gefragt, wie Mia diesen Mann nur hatte heiraten können. Ob sie ihn wohl wirklich liebte? Oder wollte sie nur einfach nicht allein sein?
Vicky schluckte ihren Ärger runter. Die Klügere gab nach. Sie platzierte ihr Besteck ordentlich auf dem Teller.
»Vielen Dank für das Essen, Mia. Ich muss dann mal wieder.«
»Aber du hast ja kaum was angerührt, Kind! Ich hab doch extra für dich den vegetarischen Gratin gemacht«, beklagte sich ihre Mutter.
»Ach ja, die Dame ist ja Vegetarierin. Verdient man damit eigentlich Geld?«, nuschelte Ralf mit vollem Mund, aus dem ein paar Fleischfasern hingen, deren Anblick bei Vicky einen leichten Brechreiz auslösten. Schnell sah sie weg und atmete einmal tief durch.
»Ich hab zum Nachtisch Æbleskiver gemacht. Weihnachten ist zwar lange vorbei, aber die magst du doch so gern. Ich geb dir wenigstens ein paar davon mit«, sagte Mia und holte aus der Küche einen großen Teller mit dem duftenden Gebäck und eine Plastikdose, in die sie eine ordentliche Anzahl der außen goldbraun gebackenen, innen fluffigen Kugeln schichtete.
»Es gibt auch noch Kanelsnegle, wenn du willst …«
»Vielen Dank für die Æbleskiver, die reichen mir. Und die Zimtschnecken kannst du für Karoline aufheben, die sind doch ihr Lieblingsgebäck. Dann sag ich noch mal danke und tschüs, Mia.«
Vicky gab ihrer Mutter zum Abschied einen Kuss auf die Wange.
»Bleib ruhig hier, ich finde allein raus. Sollte ich was von Karoline hören, sag ich dir Bescheid.«
»Ja bitte, aber wahrscheinlich hast du recht, und ich bin einfach zu ängstlich.«
Mia Frederiksen lächelte schief.
»Du kommst doch nächsten Dienstag wieder zum Essen?«
»Klar, Mia. Ich komme gern. Aber erst mal sehen wir uns ja an deinem Geburtstag, sofern du mich einlädst«, scherzte Vicky.
»Aber natürlich, Kind, so gegen elf Uhr zum Geburtstagsbrunch!« Geübt sah Vicky über ihren Stiefvater hinweg, als sie zur Tür ging. Auch der beachtete sie nicht, war er doch voll damit beschäftigt, sich die nächste schwer beladene Gabel mit Fleisch und Kartoffeln in den Mund zu schieben.
Vor der Haustür schlang sich Vicky ihren kuscheligen Schal um den Hals, zog den Reißverschluss des Parkas bis ganz nach oben und zog ihre dicken Fingerhandschuhe aus Wolle über. Es wehte immer noch ein unangenehm kalter Wind, und erste feine Tropfen segelten vom Himmel. Sie setzte den Helm auf, stieg auf ihr Rad und blickte zurück zum Haus, das mit seinen erleuchteten Fenstern Wärme und Gemütlichkeit ausstrahlte. Es war das kleinste in seiner Nachbarschaft, bescheiden und bodenständig zwischen zum Teil recht klotzig wirkenden Bauten.
Vicky fuhr los. Vom Neubaugebiet am Bornkamp waren es knapp 20 Minuten bis zu ihrer Wohnung in der Innenstadt. Warum nur fiel es ihr so schwer, schlicht und einfach einen schönen Abend mit Mia und Ralf zu verbringen? Sie liebte ihre Mutter, aber es tat ihr in der Seele weh, wie sie sich für alle anderen aufribbelte, sich von Ralf kommandieren ließ, wie Karoline sie ausnutzte – und Mia nahm das einfach alles hin und wehrte sich nicht. Das machte Vicky so unglaublich wütend, und Mia schien nicht einmal zu bemerken, wie die anderen mit ihr umsprangen. Auch die Chefin des Cafés, für das sie in den Sommermonaten leckere Torten, Kuchen und andere Backwaren fertigte und wo sie manchmal als Bedienung aushalf, beutete sie nach Vickys Meinung aus und zahlte ihr ein absolut lächerliches Geld.
»Aber ich hab doch viel Spaß dran! Das Geld ist mir dabei gar nicht so wichtig«, sagte Mia immer nur, wenn man sie darauf ansprach.
Dabei konnten sie das Geld gut gebrauchen. Auch wenn Ralf stets den Eindruck erweckte, Geld spiele für ihn keine Rolle, war das Häuschen, in das sie vor fünf Jahren gezogen waren, natürlich noch nicht abbezahlt, und seine Pension war ausreichend, aber nicht üppig. Außerdem ging ein Großteil davon für seinen alten Hummer Geländewagen drauf, den er ehrfurchtsvoll »der General« nannte, und den er mit teuren Originalersatzteilen am Leben erhielt. Fast täglich putzte oder bastelte er daran herum. Okay, jeder hatte das Recht auf ein noch so bescheuertes Hobby, doch mit diesem Spritschlucker tagein tagaus sinnlos durch die Landschaft zu kurven, war allein aus ökologischen Gründen nicht mehr akzeptabel.
Womit Vicky aber überhaupt nicht klar kam, war Ralfs Mackergehabe. Allein wie er mit herausgedrückter Brust stolzierte, statt zu gehen, wie dröhnend er sprach, als ob er Befehle erteilte, das alles rief ihren Widerspruch hervor. Frauen schien er ohnehin keiner vernünftigen Unterhaltung für fähig zu halten. Entweder er flachste nur herum mit blöden Zweideutigkeiten, oder er erklärte ihnen, wo es langging, benahm sich wie der Boss, dem seine Frau und die beiden Stieftöchter sich unterordnen sollten. Natürlich konnte er mit beiden Methoden bei Vicky nicht landen.
Nach dem Unfalltod des Vaters von Vicky und Karoline gab es in Dänemark bis auf ihre Schwiegermutter, zu der sie aber ein recht distanziertes Verhältnis hatte, keine familiären Bindungen mehr für Mia. Also war sie mit ihren Töchtern nach Deutschland gezogen, wo ihr Bruder schon seit mehreren Jahren in Lübeck lebte. Als junge Witwe mit einer vier- und einer sechsjährigen Tochter glaubte sie, nie mehr einen Mann zu finden. Doch dann lernte sie nach ein paar Jahren Ralf Ziegner kennen.
Vicky war neun, als er in ihrem Leben auftauchte. Anfangs kam er nur zu Besuch, und das Kind Vicky fand es merkwürdig, dass man mit diesem Mann überhaupt nicht spielen konnte. Er sagte immer so merkwürdige Erwachsenensachen, die sie nicht verstand, die er aber für lustig hielt, denn er lachte dabei dröhnend, sodass Vicky jedes Mal einen Schrecken bekam. Von Anfang an wahrte sie lieber eine gewisse Distanz diesem eigenartigen Menschen gegenüber.
Nicht, dass Karoline von Mias neuem Freund begeistert gewesen wäre, aber sie behielt für sich, was sie an ihm störte, begegnete ihm stets freundlich, gab keine Widerworte und machte trotzdem, was sie wollte. Das konnte Vicky nicht. Sie sagte schon immer, was sie dachte. Und als Mia und Ralf schließlich heirateten, behielt sie ihre Ablehnung nicht für sich. Es wurde auch genauso schlimm, oder schlimmer, als sie es sich vorgestellt hatte. Er mischte sich in alles ein, war der Herr im Haus, und Mia wurde immer unselbstständiger, überließ ihm in allem die Regie. Je länger Vicky mit Mia und dem Stiefvater zusammenleben musste, desto mehr sehnte sie sich nach dem Tag, an dem sie endlich volljährig wurde und ausziehen konnte. Karoline war nach dem 18. Geburtstag zu ihrem damaligen Freund gezogen, zu Marten, der … Aber daran wollte Vicky jetzt nicht auch noch denken. Jedenfalls wurde es für sie als Zurückbleibende nicht einfacher. So verschieden sie auch waren, zuweilen fehlte ihr Karoline.