Von einem, der auszog, einen Staat aufzubauen. Martin Heipertz
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Der Vormittag des 17. Februar 2008 begann für mich mit einem ausgiebigen Spaziergang durch die von freundlichem Sonnenschein erhellten Straßen Prištinas. Die Stadt war für den großen Moment der Freiheit bereit und voller Erwartung. In der zentralen Fußgängerzone, die erst vor kurzem von der Uno-Verwaltung und gegen erhebliche Widerstände auf einer vormals stark frequentierten Verkehrsstraße eingerichtet worden war, begegnete ich einem großen Marsch von UÇK-Veteranen. Ich war beeindruckt von der ruhigen Gefaßtheit, mit der die Männer, darunter viele Ältere, überwiegend schweigsam und in Räuberzivil in ungeordneten Sechserreihen über den Boulevard schritten. Das waren herbe Gesichter, zerfurcht von tiefen Falten, doch mit kleinen, schwarzen Augen, die wie Kohlenstücke glühten. Viele der Männer hatten sich untergehakt, und manchmal hob ein Sprechchor an, der verhalten aber nachdrücklich skandierte: »UÇK! UÇK!«.
Einige trugen ihre Barette aus der Kriegszeit, Waffen jedoch waren nicht zu sehen. Das fast wie ein Schweigemarsch anmutende Gedenken an die unerhörten Opfer, die für diesen Tag hatten gebracht werden müssen, stand in feierlichem und erhabenem Gegensatz zu dem überbordenden und bisweilen wenig authentischen Enthusiasmus der Jugend vom Vorabend. Auch die nicht dem Marsch zugehörigen Passanten befanden sich in gehobener, aber nur verhalten fröhlicher Stimmung. Lärm und Trubel wären deplaziert gewesen; nur an einigen Stellen und in Cafés, die schon zu Geselligkeit luden, war die Atmosphäre eher ausgelassen.
Konnte ich nun als Befreier durch die Stadt flanieren und mir hübsche Mädchen unterhaken wie ein Amerikaner im Herbst 1944 in Paris? Das konnte ich nicht. Die Albaner feierten für sich, und meine Rolle war die eines Beobachters. Einer Verabredung vom Vorabend folgend, fand ich mich in der Vertretung der EU-Kommission ein, die den modernsten und repräsentativsten Hochbau im Zentrum Prištinas belegt hatte. Wir waren einige Internationale und Ortskräfte und verfolgten gemeinsam im Fernsehen die Debatte und Abstimmungen, die im Plenum des Parlaments stattfanden. Als sich schließlich ausnahmslos alle dort anwesenden Abgeordneten erhoben und applaudierten, denn die Vertreter der serbischen Minderheit boykottierten die Sitzung, fielen sich bei uns die Ortskräfte in die Arme und vergossen Tränen der Freude. Dies war der seit langem sehnlich erwartete Moment der Unabhängigkeitserklärung. Wir Macchiato-Diplomaten gratulierten mit gewisser Zurückhaltung und schenkten Sekt aus. Zum einen sahen wir schon die erheblichen rechtlichen, ökonomischen und sicherheitspolitischen Probleme, mit denen wir uns zu befassen haben würden, zum anderen konnten wir mangels Übersetzung weder die Reden noch die Stimmung im Plenarsaal aufgreifen. Statt dessen führte ich am Rande der Übertragung erste Fachgespräche über wirtschaftspolitische Fragen mit den Kollegen von der Kommission und ließ mich ansatzweise in die aus ihrer Sicht wesentlichen Themenfelder meiner Tätigkeit einweisen.
Gegen Mittag verabschiedete ich mich, da ich mich wieder auf die Straße begeben und unter das Volk mischen wollte. Das war mittlerweile nun doch froh beim Feiern, und anders als am Vorabend feierten beiderlei Geschlechter zusammen. Vielleicht war das der Grund, weshalb die Festivität authentischer, fröhlicher und friedlicher wirkte; jedenfalls sah ich viele schöne Szenen echter, ausgelassener Freude. Ein kleiner Platz an einer der Hauptverkehrsstraßen war spontan Newborn Square benannt worden, denn ein Künstler namens Fisnik Ismaili hatte dort in übermannsgroßen, knallgelben Buchstaben aus breiten Metallquadern über Nacht die Geburt der unabhängigen Republik durch das Wort NEWBORN verewigt. Nun schrieben die Menschen mit Filzstiften ihre Namen, Hoffnungen, Wünsche und ihre überbordende Freude auf die großen, gelben Lettern, die alsbald vorne, hinten und seitlich über und über bekritzelt waren und auf diese Weise das Gefühl jenes historischen Augenblicks für die Zukunft bewahren wollten. So erreichte es erhebliche Bekanntheit weit über die Landesgrenzen hinaus und kann beispielsweise in einem Musikvideo bestaunt werden, das die in Priština geborene, britische Sängerin Rita Ora unter einem vielsagenden Titel drehte: Shine Ya Light – Set the World on Fire. Sechs Jahre nach der Unabhängigkeit wurde das Denkmal schließlich neu bemalt, und zwar in den Uniform-Tarnfarben derjenigen westlichen Streitkräfte, die 1999 in das Kosovo eingerückt waren. Anonyme Sprayer brachten rosafarbene Herzchen auf dem martialischen Anstrich an.
Vorläufig jedoch erschien das Denkmal in freudigem Gelb, und den ganzen Nachmittag über streifte ich durch die Innenstadt. Nur einmal pausierte ich in meinem engen Hotelzimmer, da es trotz des Sonnenscheins winterlich kalt war und ich mich aufwärmen wollte. Für den Abend hatte ich dank Veronikas Empfehlung eine Einladung zu einem Empfang des Deputy ICR erhalten. Das ICO wurde durch den International Civilian Representative, den ICR, geführt. Dieser stellte gemäß der noch zu verabschiedenden Verfassung die höchste zivile Instanz im Kosovo dar, befand sich allerdings noch gar nicht im Lande. Sein Stellvertreter jedoch war schon im Amt und fungierte somit als ranghöchster Angehöriger unseres ICO-Vorbereitungsteams. Der Mann hieß John Barton und war Amerikaner, Diplomat und, vielen Stimmen zufolge, Nachrichtendienstler. Auch er hatte mich im Rahmen meiner Rekrutierung in Brüssel interviewt, so daß wir bereits einen ersten Eindruck voneinander hatten gewinnen können.
Was er von mir hielt, außer der Tatsache, daß er meiner Einstellung zugestimmt hatte, erfuhr ich bis zum Ende meiner Dienstzeit nicht. Auf mich wirkte er zu diplomatisch, wenig pragmatisch und zupackend, eher intellektuell und professoral statt professionell. Er war hochgewachsen, hager, schlaksig und mit klugen Gesichtszügen, in amerikanischer Manier immer etwas nachlässig und in zu großen Anzügen gekleidet, mit in gedeckten Farben gehaltenen Button-down-Hemden und in dünnem Knoten zu lang gebundenen, viel zu bunten Krawatten. Er war alleinstehend und verfügte über ein hervorragendes, überraschend geschmackvoll eingerichtetes Appartement ganz oben am Dragodan-Hügel, mit weiter Aussicht auf die Stadt und die am Horizont zu ahnenden Berge. Barton hatte einige Dienstjahre im Orient zugebracht und von dort eine Reihe von Exponaten und Kunstgegenständen mitgebracht, die seine Wohnung schmückten. Daß ich keinen persönlichen Zugang zu ihm fand, bedauerte ich manchmal. Wie ich führte er Tagebuch. Sicherlich wäre er ein interessanter Gesprächspartner gewesen, doch er blieb mir verschlossen. Das Letzte, was ich nach meiner Zeit im Kosovo von ihm hörte, war, daß er einen neuen Posten im Irak angetreten habe.
Überhaupt schienen sich so manche meiner Kollegen im Kosovo über kurz oder lang im Irak oder gar in Afghanistan wiederzufinden. Einige verschlug es auch in den Kaukasus; die meisten aber blieben auf immer auf dem Balkan. Die Entwicklungshilfe war auf Dauer nicht mein berufliches Ziel, so daß ich mir von Anfang an vornahm, meinen Aufenthalt auf maximal ein Jahr zu begrenzen – eben bis ich den Berg Ljuboten von meinem Büro aus nicht mehr würde sehen können.
Das Bonmot kursierte unter uns Macchiato-Diplomaten, daß man drei sogenannte M-Phasen im Entwicklungsdienst absolviere: missionary, mercenary, misfit. Man begann als Missionar mit einer gehörigen Portion Idealismus, wurde dann aufgrund der guten Bezahlung zum desillusionierten Söldner, um zuletzt für Beruf und bürgerliches Leben in der Heimat untauglich geworden zu sein. Das aber war nicht der Weg, den ich beschreiten wollte.
Als ich den Dragodan-Hügel unterhalb der Residenz John Bartons über die lange Freitreppe erklommen hatte, mit der man in rüstigem Fußmarsch die serpentinenartig hinanführende Straße abkürzen konnte, brauchte ich eine Weile, um sein Haus zu finden. Doch