Aus dem Leben listiger Großmütter. Ludwig Bröcker

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Aus dem Leben listiger Großmütter - Ludwig Bröcker

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allein. Wie sehr sie es auch genoss, ein wenig ordinär zu sein, musste sie sich doch ermahnen, gelegentlich wieder runterzukommen, wie man jetzt zu sagen pflegt, aber eigentlich war es umgekehrt: Sie sollte wieder raufkommen in ihre tägliche Welt, die gepflegt war, beinahe wie der Vorgarten der Nachbarn linkerhand. „Egal jetzt“, dachte sie, „bald ist Mittag, und da ist noch ein bisschen zu tun.“

      Um viertel nach eins brachte sie ihrem Gast eine Ladung Pommes mit Bratwurst, Senf und sehr viel Ketchup, worauf der mit einer gewissen Zufriedenheit reagierte. Darauf schob sie auch noch eine Dose Bier hinterher. 20 Minuten später brachte Lisbeth Kaffee und eine Zigarette, aber mit letzterer war es nicht so einfach: Sie mochte ihm keine Streichhölzer anvertrauen. Schon beim Öffnen der Packung stellte sie sich etwas unbeholfen an, worauf sie ein verächtliches „Mann, Mann, Mann“ zu hören kriegte, und nachdem sie endlich einen Stängel rausgefummelt hatte, rauchte sie den an, hüstelte bedenklich, und schob ihn auf einer Schachtel durch das Fensterchen. Hinterher kam noch ein Blechdöschen mit Deckel als Aschbecher.

      „Haben sie nie geraucht?“ fragte er.

      „Nur einmal eine Tüte, aber das ist lange her.“

      „Cool! Aber sagen sie, wenn sie schon Staatsanwalt, Richter und Gefängniswärter in eins sind: Wie viele Jahre haben sie mir denn zugedacht?“

      „Ihnen geht es hier doch gut, oder nicht?“

      „Ich möchte meinen Anwalt sprechen.“

      „Geht in Ordnung. Reichen sie mir bitte ihren Müll, und Schmutzwäsche schmeißen sie einfach raus.“

      „Noch einmal: Wie lange?“

      „Haben sie schon einmal vom Stockholm Syndrom gehört? Nein? Dann erzähle ich ihnen das mal: In einer Bank in Stockholm hatte eine Gruppe von Räubern vier Geiseln genommen. Die waren total in deren Gewalt und bangten um ihr Leben. Trotzdem entwickelte sich zwischen den Räubern und den Geiseln ein merkwürdiges Vertrauensverhältnis, beinahe eine Zuneigung, die noch bestehen blieb, als die Räuber schon überwältigt und die Geiseln befreit waren. Das ist lange her, so um 1973.“

      Damit entfernte sich Lisbeth. Sie hatte dasselbe gegessen wie ihr Gast, der Einfachheit halber, aber nicht mit übertriebenem Appetit. Da aus dem Keller keine verdächtigen Geräusche kamen, gönnte sie sich ein Mittagsschläfchen.

      Als sie sich wieder aufgerappelt hatte, lauschte sie noch einmal an der Kellertreppe. Offenbar hatte ihr Gast das Klappen der Tür bemerkt, denn er rief: „Noch ne Kippe, bitte!“ „Heute Abend“, rief sie zurück, „wir müssen uns das langsam abgewöhnen.“

      Sie beschloss, bei Uschi Tee zu trinken. Mittwoch, ein günstiger Tag, Oskar wäre bei seiner Gesellschaft für Heimatkunde und Frühgeschichte. Ihr Thema war ein anderes: Bücher, Neuerscheinungen, Bestseller, Buchpreisträger und Short Lists.

      Es machte Spaß, sich auszutauschen: schon gelesen, noch nicht gelesen, vielleicht zu empfehlen, Daumen nach oben, Daumen nach unten. Hatte eine von beiden ein nicht zu empfehlendes Buch gelesen, hatte sie die Aufgabe, der Freundin den Schmöker in Kürze ironisch zusammenzufassen. Da war Oskar nicht zu brauchen: Wie sollte er denn die neusten Erkenntnisse über die Schlacht im Teutoburger Wald in wenigen Sätzen darstellen, dazu noch ironisch?

      Uschi meinte, dass in den meisten Neuerscheinungen alles zu flach gehalten würde: Zu viel alltägliche Befindlichkeit, Resignation, aber keine großen Gefühle, Aufstiege, Abstürze und alles das, ohne kitschig zu sein. So etwas möchte sie mal wieder lesen.

      Auf dem Heimweg dachte Lisbeth daran, dass ihr Gefangener keinerlei Unterhaltung genoss. Einen Fernseher konnte sie ihm nicht zukommen lassen. Ein Radio, das durch die kleine Öffnung passt, müsste sie noch besorgen. Indessen brachte sie die Unterhaltung mit Uschi auf das Nächstliegende: Lesen, der Typ kann doch lesen, hoffentlich, und sie hatte auch schon eine Idee, was: Ein Roman, dick genug und so, wie Uschi es mag. Sie hatte ihn doppelt, einmal als gebundenes Exemplar im Bücherschrank und einmal in Form von zwei Bänden im Paperback Format, ziemlich zerlesen auf mehreren Urlauben. Auf den zerknitterten Deckeln konnte man gerade noch eine sehr schöne Frau neben einer Dampflok erkennen. Den ersten Band von denen reichte sie ihrem Gast durch das Fensterchen:

      „ Hier haben Sie was zu lesen. Wenn Sie das durchhaben, kommt noch ein zweiter Band.“

      Allein, er nahm das Buch nicht entgegen, sondern ließ es einfach auf den Boden plumpsen. Sie sagte: „Einen Fernseher kann ich hier leider nicht installieren. Ich kann Ihnen höchstens ein winziges Radio besorgen, das hier durch passt. Das würde schrecklich krächzen, ein Schreblomat, wie mein Sohn solche Dinger nannte. Also nee, lesen ist da schon besser, und Sie tun was für ihre Bildung, versuchen Sie es.“ „Ich brauche kein Radio, sagte er, wenn ich Musik haben will, spiele ich Trompete.“ Darauf holte er einen Kamm aus dem Spiegelschrank, blies darauf, und das klang erstaunlich echt.

      Als sie später das Abendbrot brachte, lauter Schnitten mit Wurst und noch ein Bier, saß er tatsächlich lesend auf der Truhe. „Hören sie mal“, sagte er, während er seine Brotzeit entgegennahm, „was soll das heißen: Alle glücklichen Familien gleichen einander; jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Weise unglücklich. Das ist doch genau umgekehrt: Alle unglücklichen Familien gleichen einander. Mutter sitzt an der Kasse im Supermarkt oder geht putzen. Es reicht vorn und hinten nicht. Die Geschwister jammern rum und der Alte? Wenn man Glück hat, hat der sich dünne gemacht, wenn man Pech hat, sitzt er den ganzen Tag vor der Glotze, raucht, säuft und verteilt täglich Prügel für alle.“

      „Und die glücklichen?“ fragte Lisbeth.

      „Die haben genug zum Leben und mögen sich gegenseitig, oder sie haben sehr viel Knete, dann ist das Übrige egal. Jedenfalls, ganz unterschiedlich.“

      „Das ist ja das Gute beim Lesen. Man kann sich zu allem seine eigenen Gedanken machen. Aber ob das Übrige wirklich egal ist, erfahren die Leser, wenn sie weiter lesen.“

      Nach dieser Rede entfernte sich Lisbeth, kam aber bald darauf wieder, um Müll einzusammeln und eine Zigarette warm zu machen, auf die Dauer gäbe es aber nur eine pro Tag und später gar keine mehr.

      Dann wünschte sie eine gute Nacht und viel Vergnügen bei der Lektüre, sie kam aber noch einmal zurück und brachte ihrem Gast eine Mundharmonika: „Hier, die gehört meinem Sohn, der hat sich nie richtig mit ihr angefreundet, vielleicht haben Sie Spaß damit.“ Der Gefangene nahm sie entgegen, spielte eine Reihe von schrillen Tönen, blies sie dabei von allen Seiten durch und bewegte die Mechanik. Dann sagte er: „Kein Spitzeninstrument, aber besser als nichts.“

      7.

      Naturgemäß wachte der Gefangene – er hieß übrigens Mario, aber das verriet er nicht- sehr früh auf. Trotz des leise surrenden Ventilators war die Luft im Kellergefängnis nicht die frischeste, und der Mangel an Tageslicht machte ihm zu schaffen. Er hatte alle möglichen Pläne erwogen, um sich aus seiner misslichen Lage zu befreien, aber alle würden so enden, dass er entweder von der Polizei abgeholt würde, oder dass die Alte zu Schaden käme, und er selbst in diesem verdammten Verlies verhungern müsste. Da war es schon besser, geduldig auszuharren und auf die Gnade der Verrückten zu hoffen. Manchmal ertappte er sich sogar dabei, dass er Verständnis für seine Wächterin aufbrachte, oder noch peinlicher, dass er ihrem aufmunternden Morgengruß und dem Geruch von frischem Kaffee entgegenfieberte. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit gab es einen Menschen, der sich um ihn kümmerte, für Verpflegung und frische Wäsche sorgte, und alles das ohne übertriebene Strenge, ohne Geschimpfe, ohne Ermahnungen und ohne irgendetwas aufzurechnen. Und dabei gab es doch so einiges in seinem Leben, was bestimmt nicht den Beifall der Alten finden würde.

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