Blutholz. Wolfgang Teltscher

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Blutholz - Wolfgang Teltscher

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abgedeckt war und erst zwei oder drei Tage dort gestanden hatte. Das würde, kurz in der Mikrowelle aufgewärmt, als Mahlzeit reichen.

      Als sie die Tür des Kühlschranks schloss, bemerkte sie eine Postkarte, die mit einem Magnet daran befestigt war. Die Karte hing dort seit Jahren. Es war eine Karte aus dem Harz von Burt Brenner, der sie ihr von einer Tagung der Kriminalpolizei aus Bad Harzburg geschickt hatte. Sie nahm die Karte und riss sie in kleine Stücke, die sie wütend in den Papierkorb |9|hinter dem Küchentisch warf. Sie hätte diese Karte längst entsorgen sollen, sie hatte es nur deshalb nicht getan, weil sie sie nicht mehr wahrgenommen hatte. Die Karte war ein Bestandteil des Kühlschranks geworden, so wie das Logo der Firma, die das Gerät hergestellt hatte. Sie wollte nicht an ihre Zeit mit Burt Brenner erinnert werden, dieser Mann war der größte Fehler in ihrem Leben gewesen. Was der jetzt wohl machte? Ob er mit ihr ebenso abgeschlossen hatte wie sie mit ihm? Wahrscheinlich nicht.

      Es war elf Uhr, der Wind ums Haus heulte lauter als zuvor und schien nicht nachlassen zu wollen. Anja erinnerte sich nun, dass es eine Orkanwarnung für den heutigen Abend gegeben hatte. Der angekündigte Sturm schien in voller Stärke eingetroffen zu sein.

      Anja war erschöpft. Sie nahm sich vor, bald zu einer Entscheidung zu kommen, wie es weitergehen sollte, wenn überhaupt. Aber nicht mehr heute Abend. Sie zwang sich, ihre Kleidung auszuziehen und ein Nachthemd überzustreifen. Burt hatte es ihr vor Jahren geschenkt, und sie fragte sich, warum sie es nicht längst in den Müll geworfen hatte. Sie legte sich ins Bett und versuchte gegen den Sturm anzuschlafen. Als der Wind gegen Morgen nachließ, träumte sie von einer langen Reise, an die sie sich nach dem Aufwachen nicht mehr erinnerte. Aber in der Nacht war ihr klar geworden, was sie als Nächstes zu tun hatte.

      |10|2.

       Meine Mutter saß im Straßengraben und weinte. Das ist der erste Moment meines Lebens, an den ich mich bewusst erinnern kann. Alles, was davor geschah, versteckt sich im Nebel der frühen Kindheit und ist nur schemenhaft in meiner Erinnerung vorhanden: Eine große Bauernstube, die ich nur für den Augenblick zurückrufen kann, als ich unter dem Tisch sitze und mich vor dem Nikolaus und seinem Knecht Ruprecht fürchte. Ich sehe mich undeutlich unter einem Baum in einem Innenhof, der von Gebäuden an drei Seiten umgeben ist und zur Dorfstraße hin von einer Steinmauer mit einem Eisengitter in der Toreinfahrt geschützt wird. In den äußersten Winkeln meiner Erinnerung nehme ich Leiterwagen wahr, die vollgepackt mit Menschen in den Hof ein- und ausfahren. Später erzählte man mir, dass es Flüchtlinge waren, die noch weiter im Osten gewohnt hatten, und sich vor der näherrückenden Front in Sicherheit brachten. Und da ist die Wiese neben dem Haus, die zum Bach hin abfällt. Hier war alles grün und friedlich, warm und barfuß. Hinter dem Haus lagen Obstwiesen und dahinter gab es einen großen Fluss.

       Nach der Szene im Straßengraben verschwindet meine bewusste Erinnerung wieder. Es gab nur Bewegung. Bewegung auf Landstraßen ohne Anhaltspunkte für das Gedächtnis eines Vierjährigen. Lediglich der Geschmack von Kartoffelscheiben, auf einer heißen Ofenplatte geröstet, ist hängen geblieben. Vielleicht war ich damals sehr hungrig und es war meine erste Mahlzeit nach längerer Zeit. Vielleicht habe ich wegen dieser Mahlzeit eine Schwäche für Kartoffelgerichte behalten.

      Marder griff nach dem Kaffeebecher, der neben seinem PC |11|stand, er hatte ihn über das Schreiben vergessen. Der Kaffee war kalt. Das passierte ihm selten, kalter Kaffee schmeckte belanglos, er trank ihn lieber so heiß, dass er aufpassen musste, sich nicht zu verbrennen.

      Für wen schreibe ich das eigentlich? fragte er sich. Spielt es eine Rolle, ob ich mein Leben festhalte? Warum sollten meine Erinnerungen etwas Besonderes sein, etwas, das wert ist, aufgezeichnet zu werden? Gibt es nicht Tausende, Millionen von Schicksalen, die wichtiger und interessanter sind als mein eigenes?

      Marder blickte auf den Bildschirm, dem er den Anfang seines Lebens anvertraut hatte. Ich sollte alles wieder löschen, dachte er, bevor es Gestalt annimmt. Wenn ich zu lange damit warte, wird es zu spät sein – dann käme das Löschen einem heimtückischen Mord gleich.

      Die Geschichte meines Lebens ist, wenn überhaupt, lediglich für Generationen in der Zukunft von historischem Interesse, für Menschen, die keine persönlichen Beziehungen zu der Zeit haben, in der wir heute leben. Sollten Altertumsforscher im vierten Jahrtausend nach Christus – wenn Christus dann noch das Maß der Zeit ist – das alte Stade aus den Wattflächen an der Elbe, die die Klimaveränderungen produziert haben, ausgraben und meinen Laptop mit seiner gut erhaltenen Festplatte finden, können sie sich ein Bild über das Leben in unserem Jahrhundert machen. Vielleicht wird man von den Marder-Dokumenten sprechen.

      Er schrieb weiter:

      Die Reise durch die Kindheit geht weiter. Ich finde mich in einem Dorf an den Hängen eines deutschen Mittelgebirges wieder. Meine Mutter, meine Schwester und ich leben in einem kleinen |12|Zimmer auf einem Bauernhof. Das Leben ist friedlich und dörflich. Der Bauer, bei dem wir untergekommen sind, ist den Flüchtlingen gegenüber tolerant und großzügig. Ich darf sogar mit aufs Feld und Rüben auf einen Wagen werfen, der von zwei Kühen gezogen wird. Ein Mann geht täglich durch das Dorf, und nach dem Anschlagen einer Glocke in seiner Hand verliest er die neuesten Nachrichten.

       Es ist ein Leben ohne jeden Überfluss, aber ich kann mich nicht daran erinnern, je hungrig gewesen zu sein. Eines Tages stand ein Mann im Zimmer. Meine Mutter sagte: »Manfred, das ist dein Vati.« Ich lief auf ihn zu, umarmte ihn, weil ich wusste, dass so etwas einem Vater zusteht, aber ich konnte nur die Gefühle eines verwirrten Kindes empfinden.

      Marder hatte Schwierigkeiten, sich zu erinnern, wie es danach weitergegangen war. Er war müde. Es war Zeit zum Schlafengehen, am Ende dieses langen Rentnertages sperrte sich sein Gehirn gegen weitere Aufträge – es war schließlich sein erster Tag als Schriftsteller. Er befahl dem Computer, die Datei zu schließen. Die Maschine fragte ihn, ob er den Text speichern wollte. Natürlich, erst speichern. Der Computer war nachsichtig und stellte seinem vergesslichen Nutzer diese Frage auch zum x-ten Mal in einem unaufgeregten Ton. Zum Glück war seine Frau ebenso tolerant, wenn er etwas vergessen hatte, was er vor kurzem gesagt hatte, oder wenn er sich nicht daran erinnern konnte, was er ihr am Tag vorher versprochen hatte.

      Es war elf Uhr, Iris war vor einer halben Stunde im Schlafzimmer verschwunden. Schlafengehen war ein kostbares und kostenloses Vergnügen, wenn man im Ruhestand war. Er beugte sich mit Mühe zu den Füßen hinunter und zog seine |13|Socken aus, danach setzte er sich auf seine Seite des Doppelbettes und begann sein allabendliches Ritual: Er nahm verschiedene Medikamente ein, gemeinsam sollten sie ihm helfen, noch eine Reihe freudvoller Jahre auf der Erde zu erleben. Abgesehen von den beginnenden kleineren und größeren Beschwerden des Alterns, fand er, dass alt zu sein, durchaus seine Vorteile hatte. Vor allem brauchte man nicht mehr auf alles Mögliche zu verzichten, in der Hoffnung, alt zu werden, man war schon alt. Er nahm seine Arzneien dennoch gewissenhaft jeden Abend vor dem Schlafengehen, nur die Pillen gegen hohen Blutdruck schluckte er morgens, um auf die Aufregungen des neuen Tages besser vorbereitet zu sein. Er hoffte, durch diese vorbeugenden Maßnahmen zumindest das Durchschnittsalter der männlichen deutschen Bevölkerung zu erreichen, vielleicht mit dem Bonus einiger zusätzlicher Jahre. Er beendete seine Gesundheitsvorsorge mit einer heißen Tasse Kräutertee, auf deren Verpackung die Zusicherung einer geruhsamen Nacht stand.

      |13|3.

      Die Dämmerung hatte eingesetzt, von den Bäumen tropfte Nässe. Es waren die Reste des Schnees, der vor kurzem gefallen war, vielleicht der letzte dieses Winters. Bis zum Ende des befestigten Weges waren es noch wenige Meter, dann würde sich der Weg als Pfad zwischen den Bäumen verlieren. Ein junger Mann und eine junge Frau kamen Anja Hand in Hand entgegen. Sie grüßten oberflächlich, als ob sie sie nicht wirklich |14|wahrgenommen hätten. Sie waren ineinander vertieft, glücklich, ohne wahrzunehmen, wie unglücklich die einsame Spaziergängerin

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