Blutholz. Wolfgang Teltscher
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Marianne befand sich am Hang zwischen der obersten Straße des Ortes und den untersten Bäumen des Waldes, der die Hügel des Deisters bis zum Kammweg bedeckte. Das Gebäude wirkte herrschaftlich, war aber zu klein, um es tatsächlich zu sein. Die für diese Gegend ungewöhnlichen Fensterläden gaben dem Haus einen eigenständigen Charakter. Das Schild am Gartentor, das noch im letzten Jahr mit silbernen Buchstaben auf die Pension Marianne hingewiesen hatte, war bereits abmontiert worden. Frau Thann meinte es also ernst mit der Schließung des Hauses. Aus dem Rasen vor dem Haus sprossen Tulpen, strahlten jedoch nicht in gleicher Pracht wie ihre Geschwister aus Holland. Iris meinte leise, sie hätten lieber andere Blumen nehmen sollen.
Frau Thann freute sich über die Ankunft der Familie Marder. Sie umarmte Iris, traute sich nicht, das Gleiche mit Marder zu tun. Sie schien seit dem letzten Jahr kaum älter geworden zu sein, eher jünger. Marder fragte sich, ob sie sich wohl liften lassen hatte. Er konnte es sich nicht vorstellen, es passte nicht zu dieser naturverbundenen Pensionsmutter, sich von einem Schönheitschirurgen renovieren zu lassen. Wahrscheinlich war es die Vorfreude auf den Rest ihres Lebens, die sie aufblühen und verjüngt wirken ließ – die Zeit, wenn sie nicht länger Gäste in ihrem Haus beherbergen würde und sich die Tage nach ihren eigenen Wünschen einrichten konnte. Dieselbe Vorfreude hatte ihn überkommen, als er kurz davor war, den Dienst bei der Kriminalpolizei zu quittieren, |25|obwohl er immer Spaß und Genugtuung bei seiner Arbeit empfunden hatte.
»Schön, dass Sie gekommen sind. Sie können dasselbe Zimmer haben wie im letzten Jahr. Aber, wenn es Ihnen lieber ist, können Sie sich gern ein anderes aussuchen. In dieser Woche sind Sie meine einzigen Gäste, da kann ich mich Ihnen voll und ganz widmen. Das ist mir mehr als recht, ich lege keinen Wert mehr auf ein volles Haus und die ganze Arbeit, die damit zusammenhängt. Sie wissen ja, dass ich in ein paar Wochen die Pension zumachen werde. Danach werde ich ein Leben als eine einsame alte Frau beginnen.«
Das sagte Frau Thann fröhlich, ohne Bitternis. Marder vermutete, dass sie sich eher auf ein Leben als lustige Witwe vorbereitete als auf das einer einsamen alten Frau. Sie gehört bestimmt zu denen, die erkannt haben, dass man sich dem Heiteren im Leben bewusst zuwenden muss, während das Tragische von allein kommt.
Eine schwarze Katze sprang zwei Stufen hinauf, welche die Terrasse vom Garten trennten. Sie trug weiße Turnschuhe vorne, weiße Stiefel hinten. Über der Nase leuchtete ein ebenso weißes Ausrufungszeichen. Die Katze raste durch die offene Verandatür, drehte zwei unsinnige Runden im Wohnzimmer und kam vor dem Kühlschrank in der Küche zu stehen. Neben dem Kühlschrank stand ein Fressnapf, der zu ihrer erkennbaren Enttäuschung leer war – sie hatte sich offensichtlich in der Fütterungszeit geirrt. Die Katze blickte Marder auffordernd an, Marder schaute betont lässig zurück. Brisbane sah um Jahre jünger aus als bei seinem letzten Besuch. Damals schien er bereits auf dem Weg in den Katzenhimmel zu sein … Nein, Brisbane konnte es nicht sein, |26|dieser Kater war ein Junior, so um die zwei, höchstens drei Jahre alt, notfalls vier. Marder hatte genügend Erfahrung mit Katzen, um das beurteilen zu können.
Er schaute Frau Thann fragend an.
»Ich weiß, was Sie denken«, sagte seine Wirtin. »Sie denken, Brisbane hat eine Verjüngungskur gemacht. Oder dass er wiedergeboren wurde.«
»Ich vermute eher etwas anderes.«
»So ist es. Brisbane ist leider im letzten Herbst gestorben. Es beruhigt Sie vielleicht, dass er friedlich eingeschlafen ist, soweit man das bei einer Katze beurteilen kann. Er bewegte sich in den letzten Wochen immer langsamer, hören konnte er seit Monaten so gut wie nichts mehr. Zum Schluss verlor er das Interesse an seinen Gegnern in den Gärten um uns herum. Eines Tages hat er einfach aufgehört zu fressen und ist nach einer Woche gestorben. Als ich merkte, dass es soweit war, habe ich ihn an seinen Lieblingsplatz im Garten in die Sonne gelegt, und nach einer Stunde hat er aufgehört zu atmen. Sie können sich vorstellen, wie tief mich das berührt hat.«
Marder konnte das gut nachfühlen. Auch er und Iris hatten ihren Kater Tatze innig verehrt, wie es einer Katze zusteht, auf deren Grundstück und in deren Haus man wohnen darf. Sie waren sich einsam vorgekommen, nachdem sie gestorben war.
Iris blickte Frau Thann mitleidsvoll an, als wolle sie ihr Beileid aussprechen, tat es aber nicht. Schließlich war eine Katze eine Katze und kein Mensch, außerdem lag der Todesfall mehr als ein halbes Jahr zurück.
Frau Thann musste die neue Katze erklären.
»Zwei Monate nach dem Tod von Brisbane bin ich trotz |27|schlechten Gewissens wegen der kurzen Trauerzeit zum Tierheim des Tierschutzvereins gegangen, um mir eine neue Katze zu holen. Dieser Kater saß ganz vorne am Gitter, als ich kam, so als warte er bereits auf mich. Er sah aus wie Brisbane, und wie ich bald festgestellt habe, hat er einen ähnlichen Charakter, beziehungsweise die gleiche charmante Charakterlosigkeit. Er hat absolut keine Hemmungen, meine Gutherzigkeit auszunutzen. Manchmal glaube ich fast, dass Brisbane in ihm wiedergeboren ist, aber natürlich nicht ernsthaft.«
»Sie haben ihn hoffentlich nicht auch Brisbane genannt?«
»Nein, dieser Kater heißt Sydney. Das ist nahe genug an Brisbane, um mich zu trösten, aber weit weg genug für eine eigene Persönlichkeit.«
8.
Marder erinnerte Frau Thann daran, dass er am Nachmittag einen Kaffee brauche, um bis zum Abend durchzuhalten. Nur für Marder erkennbar, rümpfte Iris die Nase, sie war der Ansicht, Kaffee putsche unnötig auf, Kräutertee sei gesünder. Sie ließ sich nicht auf seine Beteuerungen ein, neue wissenschaftliche Untersuchungen hätten bewiesen, dass Kaffee keineswegs so schädlich sei, wie oft behauptet wurde. Erstens würde er dem Körper nicht Wasser entziehen, wie früher immer behauptet wurde, und zweitens wirke er sogar als vorbeugende Medizin gegen eine Reihe von Leiden. Um welche es dabei ging, hatte Marder vergessen. Er lese ohnehin nur |28|medizinische Berichte, die seine Ansichten bestätigten, meinte seine Gattin.
Während Frau Thann die Getränke in der Küche aufbrühte, griff Marder nach der lokalen Zeitung auf dem Tisch. Es war ein spontaner Akt, wie immer, wenn sich eine Zeitung in seiner Reichweite befand. Zeitunglesen war eine Leidenschaft, die er nie ablegen würde, egal wie alt er werden sollte. Seine Frau teilte sie bis zu einem gewissen Grad. Beim Lesen der Morgenzeitung lasen sie die Sektionen gern in unterschiedlicher Reihenfolge, das ließ den Tag in Harmonie beginnen. Er informierte sich zuerst über Politik und Wirtschaft, Iris studierte als Erstes die Seiten mit Kultur und Lokalem. Dann tauschten sie. Den Sportteil las ausschließlich Marder, den vernachlässigte Iris, so wie Marder es mit den Horoskopen tat. Die Klischees über die unterschiedlichen Interessen von Frau und Mann trafen auf das Ehepaar Marder beim Zeitunglesen zum Frühstück hundertprozentig zu.
»Tanken und Heizen wird bald noch teurer«, sagte Marder. »Die OPEC-Länder haben beschlossen, die Fördermengen von Rohöl zu senken und zum Ausgleich die Preise zu erhöhen. Das finde ich völlig logisch.«
»Dann sollten wir öfter mit dem Fahrrad fahren und nicht für jede kleine Besorgung im Ort das Auto nehmen«, antwortete Iris. »Und das Thermostat im Haus um ein paar Grad heruntersetzen.«
»Das mit dem Fahrrad sagen wir schon seit Jahren, tun es aber nur selten, eigentlich nie, und das mit den Temperaturen halte ich für eine schreckliche Idee. Ich will nicht im Alter in einer frostigen Wohnung sitzen.«
|29|Marder schüttelte sich, der Gedanke an ein kaltes Wohnzimmer jagte ihm einen eisigen Schauer über den Rücken.
»Vielleicht sollten wir uns an der Börse an den Spekulationen ums Erdöl beteiligen