Blutholz. Wolfgang Teltscher

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Blutholz - Wolfgang Teltscher

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aus einem Seitenweg. Sie ging langsamer. Der Mann kreuzte ihren Weg, ging auf der anderen Seite wieder in den Wald. Ihr schien, er trug einen Gegenstand unter seiner Jacke, den er verborgen hielt. Er hatte sie nicht angeschaut und sie hatte sein Gesicht nicht sehen können. Für einen kurzen Moment hatte sie das Gefühl gehabt, er käme ihr vertraut vor. Hatten seine Schritte nicht für einen Augenblick gezögert? War er nicht zusammengezuckt, als sie sich annäherten? Im gleichen Moment hatte sie einen Anflug von Angst gehabt. Sie fragte sich, warum er gerade jetzt und hier aufgetaucht war. War es wirklich nur ein beliebiger Zufall? Unsinn, dachte sie, du fängst an Gespenster zu sehen. Als sie die Wegkreuzung erreichte und nach links schaute, war der Mann in der Dunkelheit bereits verschwunden.

      Es war düster geworden, die Welt existierte nur noch wenige Schritte um sie herum.

      |14|4.

      Das Messer stach durch die Haut. Es dauerte nur Sekunden, bis das Blut kam, Blut aus der Wunde, die das Messer geöffnet hatte, erst Tropfen, dann ein kleiner Strom. Ein Teil des Blutes tropfte auf einen Baumstamm, der auf dem Waldboden |15|lag. Es sah aus, als hätte der tote Baum Blut geweint, dann drang das Blut in das Holz ein und hinterließ einen rotbraunen Fleck auf seiner Oberfläche.

      |15|5.

      Iris seufzte.

      Marder bemerkte, dass seine Frau nicht wie gewöhnlich vor dem Einschlafen ein Buch las, sondern sich mit offenen Augen gegen das Kopfende des Bettes lehnte. Sie blickte auf ein Gemälde von Vincent van Gogh an der Wand gegenüber, die Kopie eines Bildes des halb wahnsinnigen Künstlers, das Sonnenblumen in der gleißenden Hitze auf einem Feld in der Provence zeigte. Sie hatten das Bild während der letzten Ferien in einem Museumsshop in Südfrankreich gekauft, es war ihr erster Urlaub im Süden Europas gewesen. Solange er arbeitete, hatte Marder darauf bestanden, ans Meer oder nach Dänemark in den Ferien zu fahren. Dabei zog er die Nordsee vor, denn an der Nordsee fühlte er sich frei, dort fing das Meer an – an der Ostseeküste hörte lediglich das Land auf. Iris hatte seit Jahren gesagt, sie würde gern auch einmal ans Mittelmeer fahren, und im letzten Sommer hatte sie sich endlich durchsetzen können. Marder musste nach dem Genuss von täglicher Sonne und täglichem Rotwein zugeben, dass er viel zu lange auf dem Nordmeer bestanden hatte.

      »Warum liest du nicht?«, fragte er.

      »Ich kann meine Lesebrille nicht finden.«

      |16|»Du hast doch drei.«

      »Die anderen kann ich auch nicht finden.«

      »Ich sage doch, du solltest die Brillen immer an dieselben Stellen legen, dann findest du sie auch wieder.«

      »Das habe ich ja getan, aber sie liegen nicht mehr dort.«

      »Soll ich dir beim Suchen helfen?«

      »Nein, danke, ich will im Moment sowieso nicht lesen. Ich denke lieber nach.«

      »Worüber denn?«

      »Über dich und mich, die Kinder und die Enkel.«

      »Machst du dir Sorgen?«, wollte Marder wissen.

      »Nicht wegen dir oder mir, aber ein bisschen wegen der Enkel.«

      »Was ist denn mit den Enkeln?«

      »Eigentlich nichts Besonderes. Mir fällt halt auf, dass sie ganz anders erzogen werden, als wir es mit unseren Kindern gemacht haben. Manchmal beunruhigt mich das.«

      »Ich denke, dass unsere Kinder gute Eltern sind, es kann nicht alles falsch sein, was sie von uns gelernt haben. Oder?«

      »Ich weiß nicht … ich denke nur, dass die Kleinen zu oft fernsehen dürfen. Anstatt die Welt selber zu entdecken, wird ihnen alles ins Haus geliefert. Außerdem glaube ich, dass sie mit zu viel Sicherheit aufwachsen. Sie werden vor allem geschützt und total behütet.«

      Während Iris das sagte, zog sie die Bettdecke bis ans Kinn hoch, als wolle auch sie sich schützen.

      »Was meinst du damit?«

      »Na, zum Beispiel, an jeder Treppe im Haus ist ein Kindergitter angebracht. Selbst wenn sie im Garten auf |17|dem Kinderfahrrad herumfahren, müssen sie einen Helm tragen.«

      Iris rutschte im Bett ein Stück nach unten. Marder rutschte nach.

      »Was soll daran so schlimm sein? Das ist doch eher vernünftig.«

      »Ich denke nur, sie lernen nicht, selbst aufzupassen und Gefahren zu erkennen. Später, wenn sie mal größer sind, müssen sie das auch tun … aber vielleicht sollte ich so was nicht sagen. Es wäre furchtbar, wenn sich einer von ihnen verletzen würde, nur weil ich gesagt habe, sie brauchen beim Radfahren keinen Helm.«

      »Ich sehe das ähnlich wie du, mein Schatz. Aber als Großmutter hast du darauf ebenso wenig Einfluss wie ich als Großvater. Früher war das Leben für kleine Kinder zwar interessanter, heute ist es dafür sicherer, und ich weiß nicht, was besser ist. Aber unsere Kinder lassen sich da sowieso nicht reinreden.«

      Iris setzte sich wieder aufrecht, lehnte sich an die Kopfstütze des Bettes, lächelte ihren Mann zustimmend an.

      »Weißt du«, meinte der abschließend. »Es ist alles nicht so wichtig, was wir denken. Das Wichtigste ist, dass die Eltern die Kinder lieben und umgekehrt.«

      Marder liebte alle seine Enkel mit gleicher Inbrunst, auch wenn sie ganz unterschiedlich waren. Torsten war robuster als der sensible Darius, den er meistens Manfred nannte, weil die Eltern dem Jungen als zweiten Namen »Manfred« angehängt hatten, um dem Großvater eine Freude zu machen. An den Tag, als Manfred Darius … na ja … genau genommen … Darius Manfred getauft wurde, dachte er mit Freude zurück. |18|Er hatte sich damals gefühlt, als wäre er selbst zu neuem Leben erweckt worden.

      Miriam war in nichts zu vergleichen mit … mit … Das schlechte Gewissen packte ihn, es war nicht das erste Mal, dass ihm der Name seiner jüngsten Enkeltochter nicht einfallen wollte. Es war eine Krux mit den Namen, die Eltern ihren Kindern heutzutage gaben. Wenn man die Namen der Neugeborenen in der Zeitung las, konnte man zu dem Schluss kommen, dass Stade am Bosporus oder am Chinesischen Meer lag.

      Es waren nicht nur die Namen seiner Enkel, die ihm gelegentlich nicht einfallen wollten. Manchmal konnte er sich am Morgen nicht erinnern, was er am Tag zuvor getan hatte, dann versuchte er durch unschuldige Fragen den vorigen Tag wiederzufinden, ohne dass seine Frau merkte, warum er diese Fragen stellte. Er war überzeugt, dass Iris keine Ahnung von seinen gelegentlichen Kämpfen mit seinem Gedächtnis hatte. Wenn sie sich über »früher« unterhielten, hatte er nur selten Schwierigkeiten, sich an die Ereignisse in seiner Jugend oder seines Mittelalters zu erinnern, oft auch an die unwichtigen, überflüssigen, oder noch schlimmer, peinlichen Momente. Die waren ihm im Gegensatz zu den Erlebnissen in der jüngsten Vergangenheit stets gegenwärtig. War diese zunehmende Vergesslichkeit der Grund, warum es ihn drängte, seine Memoiren zu schreiben? Dabei war Memoiren bestimmt das falsche Wort. Memoiren waren Bücher, die prominente Leute schrieben. Vielleicht würde sein Freund Erich Falkenberg einmal zu diesen Berühmtheiten zählen, denn er war der wichtigste Mann der Kriminalpolizei in Niedersachsen. Wer weiß, wo der noch enden würde?

      |19|Nathalie hieß sie. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Der Name seiner Enkelin war ihm wie von selbst zugeflogen.

      Die Frau neben ihm im Bett, die er seit fünfzig Jahren kannte und

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