Hannah und die Anderen. Adriana Stern

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Hannah und die Anderen - Adriana Stern

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willst doch immer nur im Mittelpunkt stehen. Hör auf, dir ständig diese abgedrehten Geschichten auszudenken und damit alle Leute verrückt zu machen, die mit Sicherheit Besseres zu tun haben, als sich mit deinen Hirngespinsten zu befassen«, hörte sie die warnende Stimme der Mutter in ihrem Kopf und ließ mutlos die Hand mit dem Hörer sinken.

      Wer weiß, vielleicht hatte die Mutter ja Recht. Was konnte sie, Hannah, denen vom Mädchenhaus schon erzählen? Ja, was eigentlich? Erneut stieg Panik in ihr auf, und ein abgrundtiefes Gefühl von Sinnlosigkeit sprang sie aus dem Dunkel der Großstadt an.

      »Trotzdem. Ich kann nicht zurück. Ich habe keine andere Wahl«, sprach sie sich selbst Mut zu. »Ich muss es einfach tun. Ich muss. Seit Tagen denke ich an nichts anderes mehr. Schließlich bin ich doch abgehauen von zu Hause! Ich habe es doch tagelang geplant. Nachdem …« Hannah schrie erschrocken auf.

      Nein, nein, ich will das gar nicht wissen. Nein, ich … ich kann das nicht. Ich will das nicht. »Verdammt, Hannah, jetzt reiß dich endlich zusammen«, sagte sie schließlich wütend.

      Sie nahm den Telefonhörer wieder fest in die Hand. Hielt ihn an ihr Ohr. Sah sich die Nummer auf dem zerrissenen Zettel an und wählte sie langsam und konzentriert Ziffer für Ziffer.

      Sie hörte das Klingelzeichen. Einmal, zweimal – es würde niemand rangehen, es würde niemand da sein. Immer war es so. Niemand erreichbar …

      Sie hörte, wie der Anrufbeantworter sich einschaltete und eine Frauenstimme sagte: »Hallo. Du bist verbunden mit dem Notruf für Mädchen. Im Moment können wir leider nicht ans Telefon gehen. Du kannst es in einer halben Stunde noch einmal versuchen. Nach dem Signalton besteht auch die Möglichkeit, eine Nachricht zu hinterlassen. Wir rufen zurück, sobald der AB abgehört wird.«

      Sie hörte die Pause, dann den Signalton, dann nichts mehr.

      Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Sie hatte plötzlich wieder Angst vor ihrer eigenen Stimme. Auch das kannte sie schon. Diese Angst, die Kontrolle zu verlieren …

      Sie sah den Regen draußen an der Scheibe hinunterlaufen. Sie hörte das Schlagen der Elternhaustür in ihrem Kopf. Wie einen Pistolenschuss. Dann Leere.

      Ich muss etwas sagen, dachte sie verzweifelt. Das Band würde zu Ende sein, bevor sie etwas gesagt hätte. Und dann? Sie würde die Nummer verlieren. Sie wusste, sie konnte nicht mehr nach Hause zurück. Es war unmöglich. Unmöglich.

      »Hallo«, hörte sie sich sagen und erschrak tatsächlich vor ihrer Stimme. »Ich brauche Hilfe, ich weiß nicht, wohin, ich … man kann mich nicht anrufen. Ich bin in einer Telefonzelle, ich habe keine Uhr. Eine halbe Stunde, ich weiß nicht, wie lange das ist. Ich habe kein Geld, ich weiß nicht …«

      Das Band brach ab und sie ließ den Hörer fallen. Ihr wurde schwarz vor Augen und die Umgebung verschwamm mehr und mehr vor ihrem Blick. Sie taumelte innerlich zurück. Immer weiter und weiter und weiter.

      Etwas benommen versuchte ein Junge, sich zu orientieren.

      Aha, kombinierte er. Telefonzelle! Großstadt! Sehr gut!

      Er sah den Hörer am Kabel gleichmäßig hin und her schwingen. Ein Telefongespräch hatte wohl nicht stattgefunden, sonst stünde er nicht hier.

      Und jetzt? Würden sie Hannah zu Hause schon vermissen? Würden sie bereits nach ihr suchen?

      Er lachte. Arschlöcher, alle, dachte er und gab der Telefonzellentür einen heftigen Tritt. Dann eben nicht. Ich komm auch ohne die klar. Sozialarbeiter! Lächerlich.

      Der Regen hatte etwas nachgelassen und er versuchte herauszufinden, wo genau er inzwischen gelandet war.

      Gut hat sie das hinbekommen mit dem Abhauen, dachte John zufrieden und warf noch einen letzten Blick zurück auf die Telefonzelle, bevor er sich zum Gehen wandte. Und sie ist tatsächlich hier angekommen. Geil! Dann kann das Abenteuer Großstadt ja beginnen.

      In dieser Stadt war er nur einmal gewesen, während einer Schülerdemo gegen irgendetwas, woran er sich nicht mehr erinnern konnte.

      Lehrer, dachte er verächtlich. Als hätten die mir jemals etwas beibringen können. Jedenfalls nicht auf meiner Schule …

      Er sah einen Polizeiwagen an der nächsten Straßenecke und dachte: Scheiße, Scheiße, die suchen mich bestimmt schon überall!

      Er warf kurz einen Blick in alle Richtungen und lief los. Er bog zweimal rechts, einige Male links ab. Er lief immer weiter, ohne ein klares Ziel vor Augen. Er ließ sich einfach von seiner Intuition leiten. Irgendwann würde schon irgendetwas passieren. Das war bisher nie anders gewesen. Er musste nur lange genug weitergehen und nicht aufgeben.

      John dachte an den Abend zurück, über den Hannah eben in der Telefonzelle nicht hatte nachdenken wollen. Er fand es richtig, dass sie sich damit nicht weiter belastete. Dafür gab es schließlich andere. Ihn zum Beispiel, der sich von seinem Vater nichts gefallen ließ.

      Na ja, okay, für ihn war das auch nicht so schwierig wie für die Mädchen. Auf ihn hatte der Vater fast immer gut reagiert. Kumpelhaft eben, wie es sein sollte zwischen Vater und Sohn. Kein Problem also. Eine Menge hatte John von ihm gelernt. Lauter praktische Handwerkssachen, die ihm ganz sicher von Nutzen sein würden. Erklären, das konnte sein Vater wirklich erstklassig. Besser als jeder Lehrer, der ihm bislang begegnet war.

      Aber an diesem Abend war er zu weit gegangen. Er hatte ihn, John, geschlagen. Nein, nicht nur einmal mit der flachen Hand. Immer wieder mit der Faust ins Gesicht. Der Alte war regelrecht ausgerastet. Warum, das wusste John nicht, und niemand von den Anderen hatte es ihm erzählt.

      Aber in der Nacht war die Entscheidung gefallen. Hannah musste abhauen. Es wurde jetzt lebensgefährlich für sie alle. Wenn der Vater sogar vor ihm, John, den Respekt verloren hatte, dann hatte niemand mehr etwas zu lachen.

      Hannah war für die Flucht am besten geeignet. Weil sie als Einzige keine Ahnung hatte. Sie wusste einfach nichts. Nichts von den Gefahren. Nichts von der Geschichte.

      So hatten sie es beschlossen. In ihrer Panik. Nach diesem 15. Geburtstag, der eigentlich keine andere Entscheidung mehr offen gelassen hatte. Wenn jemand es schaffen konnte, alles noch irgendwie zum Guten zu wenden, dann nur jemand, der nichts von dem wusste, was vorher war. Ja, und seitdem also gab es Hannah.

      Und – er hatte Recht behalten. Sie hatten es wirklich geschafft. Kluges Mädchen, dachte er erleichtert und sah sich in der Straße um.

      Diese Stadt ist so groß, dass sie mich nicht finden werden. Der Gedanke erfüllte ihn mit Zuversicht. Die Gegend gefiel ihm. Alte, hell und gemütlich beleuchtete Häuser. Junge Leute mit Kindern auf den Bürgersteigen. Ein nettes kleines Café an der Straßenecke. Ein Trödelladen neben einem Antiquariat. Ein Bäcker gegenüber auf der anderen Straßenseite.

      Hier ist es gut, dachte John. Ab hier kann Hannah weitermachen. Er ließ seinen Blick noch einmal durch die Straße wandern und schloss dann die Augen.

      Im Laufen hatte sie Mühe, ihre Gedanken zu sortieren. Geld hatte sie keins mehr und sie kannte keinen Menschen in dieser lauten, unfreundlichen Stadt.

      Vielleicht war es doch keine so gute Idee, hierher zu flüchten. Vielleicht hat mich die Mutter von Stephanie ja angelogen und es stimmt überhaupt nicht, dass sie einem Mädchen beim Notruf helfen. Und außerdem, überlegte sie weiter, was hatte die Mutter von Stephanie überhaupt

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