Hannah und die Anderen. Adriana Stern
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In Hannahs Kopf formten sich Worte, Sätze, Gedankenfetzen. Eine wilde Verzweiflung und der Wunsch laut zu schreien und der Mutter zu widersprechen. Aber nichts von alldem konnte die dicke Panzerglasscheibe durchbrechen, und wie von einem anderen Planeten aus sah Hannah der Frau vom Jugendamt ins Gesicht.
»Stimmt das? Du bist ohne Führerschein mit dem Klasse-1-Motorrad deines Bruders durch die Gegend gefahren? Warum, Hannelore?« Die Frau beugte sich zu ihr vor. Sie sah verwirrt und ein wenig beunruhigt aus.
»Willst du jetzt nicht mehr mit mir reden?«, fragte sie dann und musterte Hannah aufmerksam.
Hannah schüttelte stumm den Kopf. Sie hörte einen lauten Knall, mit dem sich ein Sargdeckel über ihr schloss.
Von sehr weit weg sah sie noch, wie sich die Mutter und die Frau freundlich voneinander verabschiedeten und die Mutter der Sozialarbeiterin für ihre Bemühungen dankte und sich gleichzeitig dafür entschuldigte, dass sie wegen Hannah so viel unnötige Arbeit gehabt habe.
Wie gesagt. Das war kurz nach ihrem 15. Geburtstag passiert. Mehr fiel ihr nicht ein.
Ich muss sofort etwas essen, dachte Hannah unvermittelt. Ich verhungere sonst noch mitten auf dieser elenden Straße. Und zwar noch heute Nacht, wenn ich nicht vorher erfroren bin.
Im gleichen Augenblick erregte ein Laden an der Ecke Hannahs Aufmerksamkeit. Es war eine Buchhandlung mit vielen Plakaten an den Schaufenstern. Da war sie wieder, diese Telefonnummer.
Komisch, dachte sie, während sie in ihrer Jackentasche und dann noch mal in ihren Jeanstaschen kramte, ich hab die Nummer echt in der Zelle liegen lassen.
Sie sah sich das Plakat genau an. Ja, da stand es. Genau so, wie es die Mutter von Stephanie ihr erzählt hatte. In großen bunten Buchstaben stand es dort auf dem Plakat.
Hallo!
Willst du weg von zu Hause? Hältst du es dort nicht mehr aus? Suchst du einen Raum, in dem du sicher bist und dir jemand zuhört? Wo du in Ruhe darüber nachdenken kannst, was du selber willst? Und wo du über deine Sorgen reden kannst? Weißt du nicht mehr wohin? Hast du Angst und brauchst Hilfe? Einen Schlafplatz, etwas zu essen? Dann ruf uns an. Wir sind Frauen, die Mädchen in Notlagen unterstützen. Wir beraten dich, und wenn du willst, dann kannst du auch eine Zeit lang bei uns wohnen, bis du für dich eine Lösung gefunden hast.
Mädchenhaus
Die Telefonnummer wurde dann noch einmal in großen roten Zahlen wiederholt. Hannah fand nichts zu schreiben. Na ja, dachte sie, ich habe sowieso kein Geld mehr. Die Telefonkarte hatte sie auch in der Zelle vergessen. Verzweiflung stieg langsam in ihr auf und sie spürte den Kloß im Hals so deutlich, dass sie glaubte, daran zu ersticken.
Die Tür des Ladens öffnete sich und Hannah trat erschrocken einen Schritt zur Seite. »Tschüß, Janne, dann bis übermorgen«, hörte sie eine Frauenstimme direkt vor sich und ehe sie richtig mitbekam, was geschah, lag sie schon auf dem Boden.
»Oh Scheiße, das tut mir Leid, ich hab dich überhaupt nicht gesehen. Hast du dir wehgetan?« Ein besorgtes Gesicht beugte sich über sie. »Komm, ich helfe dir aufstehen«, sagte die Stimme, und eine Hand wurde ihr entgegengestreckt.
»Geht schon«, murmelte Hannah ohne aufzublicken.
»Mensch, du bist ja total nass«, sagte die Frau. »Willst du nicht einen Moment reinkommen?«
Hannah nickte. Ihr fiel sowieso nichts Besseres ein, außerdem spürte sie plötzlich, dass ihr Knie wehtat und ihr bei dem Sturz offensichtlich doch etwas passiert war.
»Hey«, hörte sie eine andere Stimme, die von Janne, wie sie später erfuhr, »ich hätte nicht gedacht, dass ich dich so schnell wiedersehe.« Und dann, nach einer Pause: »Was ist denn passiert?«
»Ich habe vor der Tür ein Mädchen umgerannt. Ich glaube, sie hat sich verletzt«, antwortete die Frau. »Ich heiße übrigens Marissa, es tut mir echt Leid. Kann ich irgendwas tun? Setz dich doch erst mal. Dein Knie blutet ja. Scheiße«, sagte sie noch einmal, und Hannah setzte sich auf den angebotenen Stuhl.
»Sag mal, wohnst du hier irgendwo in der Nähe?«, fragte Janne, die hinter dem Ladentisch hervorgekommen war. »Du bist ja ganz nass. Ich könnte dich nach Hause bringen.«
Hannah riss erschrocken die Augen auf. Sie schrie es fast. »Nein, nein, bloß nicht. Ich … ich komm schon alleine klar. Lasst mich doch einfach in Ruhe.« Entsetzt über ihren Ausbruch hielt Hannah sich unwillkürlich den Mund zu.
Janne und Marissa sahen sich an. »Ich bring dir ’nen Kaffee. Oder willst du lieber Tee?«, fragte Janne und sah Hannah nun direkt an.
Sie sieht irgendwie nett aus, dachte Hannah erleichtert und sagte: »Ein Kaffee wäre toll.«
»Meinst du, ich kann jetzt gehen?«, fragte Marissa und Janne nickte.
»Na klar, kein Problem«, und mit einem Ich-schaff-das-schon-Blick wies Janne zur Ladentür.
Dann saßen sie sich schweigend gegenüber, und Hannah fühlte sich immer unbehaglicher.
»Was ist denn das hier für ein Laden?«, fragte sie in die Stille, als sie den ersten Schluck Kaffee getrunken hatte.
»Das ist ein Frauenbuchladen.«
»Wie?«, meinte Hannah und sah Janne neugierig an.
»Na ja«, begann Janne, »hier kommen nur Frauen hin und kaufen Bücher, die von Frauen geschrieben sind. Männer dürfen hier nicht rein, und Bücher, die von Männern geschrieben sind, verkaufen wir auch nicht.«
»Und wieso nicht?«, fragte Hannah weiter, froh, dass Janne ihren Ausbruch offensichtlich gar nicht richtig mitbekommen hatte.
»Viele Frauen haben festgestellt, dass sie sich an Orten, wo keine Männer sind, oft wohler fühlen und dort ihre Ruhe haben. Und dann sind Frauenzentren entstanden und eben auch Frauenbuchläden.«
»Und die Mädchen?« Hannah entspannte sich etwas. Ihr gefiel der warme, gemütliche Buchladen. Und der Kaffee schmeckte gut.
»Mädchenbücher haben wir auch. Und ein paar Häuserblocks weiter gibt es ein Mädchencafé.«
»Draußen hängt ein Plakat«, meinte Hannah und musterte Janne vorsichtig. »Da steht was drauf von ’nem Mädchenhaus.«
Janne nickte zustimmend und setze sich auf einen zweiten Stuhl. Sie steckte sich eine Zigarette an. »Willst du auch eine?«
Hannah musste lächeln. »Ich bin noch keine sechzehn«, sagte sie.
»Na und, manche Mädchen rauchen schon mit zehn, und du sitzt schließlich nicht hier, weil ich dich erziehen soll, oder?«
»Nee, natürlich nicht. Ich lass mich sowieso von niemand erziehen.« Hannah sah ein wenig kampflustig aus.
»Interessierst du dich für das Mädchenhaus?«, fragte Janne.
»Ist doch für Mädchen, oder?«, konterte Hannah.
»Ja, ist für