Hannah und die Anderen. Adriana Stern

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Hannah und die Anderen - Adriana Stern

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Stimme klang laut.

      »Du brauchst keine tollen Worte, verdammt. Du sagst denen einfach, dass du da hinwillst. Das ist alles, was du tun musst. Du musst nix beweisen. Dein Gefühl reicht. Wenn du nicht nach Hause willst, dann hast du das Recht, dorthin zu gehen.«

      Die Frau setzte sich wieder. Dezember hob den Stuhl auf und stellte ihn an die gleiche Stelle zurück. Sie sah sich in dem Zimmer um, als suche sie nach einem Halt oder einem Wort.

      »Da ist niemand«, hörte sie sich sagen und fühlte sich plötzlich sehr klein.

      Die Frau sah Dezember einen Moment lang an. Dann sagte sie: »Im Mädchenhaus ist immer jemand, sie sind Tag und Nacht da.«

      »Nein. Das stimmt nicht. Jemand von uns hat schon angerufen und es war niemand da.« Sie verstummte entsetzt. Oh nein, dass hätte sie niemals, niemals sagen dürfen. Das hätte ihr nicht herausrutschen dürfen. Sie hatte sich verraten.

      Dezember wurde schlagartig schlecht und sie hielt sich krampfhaft an der Stuhllehne fest.

      Gut, jetzt hatte sie es also gesagt. Jetzt würde die Frau sie bestimmt rausschmeißen, sie anschreien oder vielleicht sogar … Dezember duckte sich.

      »Hey«, hörte die Stimme der Frau, »es tut mir Leid, dass du nicht sofort jemanden erreicht hast. Stimmt, manchmal unternehmen die Frauen etwas mit den Mädchen und sind dann nicht da. Oder sie sprechen gerade mit einem Mädchen und wollen nicht unterbrochen werden. Aber sie sind dann nie lange weg und man kann später noch einmal anrufen.«

      »Aber ich soll eine Nummer sagen, wo die mich erreichen können. Ich habe aber keine.« Dezember schwieg.

      »Wir könnten zusammen den Laden aufräumen und vorher rufst du im Mädchenhaus an und hinterlässt die Nummer hier. Und wir bleiben so lange hier, bis dich jemand zurückruft. Was hältst du von der Idee?«

      Dezember war plötzlich unendlich müde. Sie konnte überhaupt nicht mehr denken. Immer noch drehte sich alles, und ihr wurde noch übler. Sie hörte tausend Stimmen in ihrem Kopf, die ihr unterschiedliche Sachen sagten. Welche, die unglaublich wütend waren. Andere, die einfach lachten, sie auslachten.

      »Ich kann nicht mehr«, sagte Dezember und ließ sich auf den Boden fallen.

       Liebes Tagebuch

       Donnerstag, den 2. Juni 1994

      Tante Lore hat mir heute zum Geburtstag ein Buch mit leeren Seiten geschenkt. Tante Lore ist – glaube ich – die einzige Tante, die ich richtig gerne mag aus meiner ganzen Verwandtschaft. Sie hat gesagt, ich könnte es als Tagebuch benutzen oder um Gedichte darin aufzuschreiben. Dass Tante Lore überhaupt weiß, dass ich Gedichte schreibe! Das Wichtigste ist wahrscheinlich, dass ich das Tagebuch sehr gut verstecke, damit Mama es nicht findet.

      Denn sie würde bestimmt alles lesen. Meine Post macht sie ja schließlich auch einfach auf. Sie meint, Briefgeheimnis gilt nicht für Kinder, solange sie noch zu Hause wohnen. Und weil sie das Sorgerecht für mich hat – Mama sagt immer ›die elterliche Gewalt‹, so wie das wohl früher mal hieß, tja, solange sie also für mich noch zuständig ist, hätte sie das Recht, alles zu lesen und zu kontrollieren, was für mich ist oder von mir kommt.

       Klar, bei ihrer Paranoia, dass ich sowieso bloß lüge. Woher sie das wohl weiß?

       Ich jedenfalls finde es echt gefährlich, hier mal eben so locker ein Tagebuch zu führen. Denn was wirklich zu Hause passiert, sollte man hier wohl lieber nicht reinschreiben. Na, kann mir ja egal sein. Meine Meinung interessiert dich ja sowieso nicht.

      Jetzt kaue ich schon die ganze Zeit auf meinem Stift herum – eine sehr schlechte Angewohnheit, sagt Papa. Ich glaube, da hat er wohl Recht. Eigentlich war es wohl ein ganz schöner Geburtstag. Ich weiß gar nicht, wieso ich mich trotzdem so allein fühle. So einsam.

       Der Blick aus dem Fenster bedeutet Einsamkeit

       keine Spur im Sand

       die zu mir führt

       niemand, der mich erreicht, der mich versteht

       niemand, der begreift, was ich selbst nicht begreifen kann

       ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich nicht Hannelore heiß

      Hannelore ist echt ein bescheuerter Name. Ich würde viel, viel lieber, na ja, vielleicht nicht gerade Rumpelstilzchen heißen, aber auf jeden Fall nicht so. Miriam zum Beispiel, das ist ein Name, der mir gut gefällt. Eigentlich, finde ich auch, heiße ich schon immer so. Wie diese tolle Schriftstellerin, die so viele Bücher übersetzt hat und auch selber tolle Bücher schreibt. Ich möchte gerne noch mindestens zwei andere Sprachen lernen. Leider kann ich die ja nur in der Bibliothek lesen, aber diese Miriam Pressler finde ich einfach klasse. Sie schreibt und übersetzt, finde ich, wirklich wichtige Bücher. Ich weiß ja, dass ich nicht so bin wie sie, aber vielleicht kann ich es mal werden, wenn ich erwachsen bin.

      Da fällt mir ein, so ein Tagebuch, das müsste sich an irgendjemanden wenden. Ich muss alles jemandem erzählen können. Jemandem, der mich versteht. Jemand, der ein bisschen so ist wie meine Tante Lore, nach der ich ja immerhin benannt sein soll.

      Oh ja, ich weiß. Ich werde mir einfach jemanden vorstellen, so wie es Anne Frank in ihrem Tagebuch gemacht hat. Und sie soll älter sein als ich. Schon erwachsen, aber nicht steinalt. Neunzehn vielleicht. Und sie heißt Klara, weil sie so viel Klarheit hat und mir immer helfen und mich trösten kann, wenn ich nicht mehr weiterweiß.

      Okay, also dann fange ich jetzt noch mal ganz neu an.

      Liebe Klara,

      na ja, das habe ich ja schon aufgeschrieben, dass ich heute Geburtstag habe und mir Tante Lore ein Buch geschenkt hat mit leeren Seiten darin.

      Sag mal, findest du eigentlich auch meine Schrift so zerfahren und unterschiedlich? Manchmal, das gebe ich zu, habe ich echt eine Sauklaue. Ich glaube, das war auf jeden Fall auch ein Grund, wieso ich vorher noch nie überlegt habe, ein Tagebuch zu schreiben. Weil plötzlich meine Schrift richtig schlecht und krakelig wird und dann tausend Tintenkleckse da reinkommen und Fettspritzer und so, und das finde ich echt eklig. Ich habe keine Ahnung, wieso mir das immer passiert. Ich setze mich eigentlich nie mit Fett- oder Schokoladenfingern an meine Hausaufgaben. Trotzdem passiert das ständig. Das ärgert mich total, zudem mir in der Schule die Lehrer nicht glauben – na ja, wie sollten sie auch –, dass ich echt überhaupt nichts dafür kann – komisch, es sind ja meine Hefte? Scheiße, so was verwirrt mich echt. Interessiert dich das eigentlich? Bestimmt gibt es wichtigere Themen als beschmierte Hefte. Ich muss mal kurz nachdenken, was ich dir erzählen könnte.

      Also, Fettfinger sind doch nun wirklich nicht so ein tragisches Problem, ich könnte da über ganz andere Sachen berichten, die ich viel schwieriger finde. Meine Alpträume zum Beispiel. Außerdem liebe ich Käsebrot essen oder Schokolade und dann was aufschreiben echt megamäßig. Ehrlich, ich kann mich viel besser konzentrieren, wenn ich gleichzeitig was in den Bauch bekomme! Und ich würde mich wirklich freuen, Miriam, wenn du meine Existenz wenigstens dadurch mal bemerken würdest!

      Ich denke zum Beispiel sehr viel darüber nach, dass ich mich so oft schlecht fühle, obwohl, wenn ich

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