Hannah und die Anderen. Adriana Stern
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Hannah hörte ein höhnisches Lachen hinter sich und drehte sich erschrocken um. Aber … da war niemand. Verwirrt schüttelte sie den Kopf.
Nein, solche Mädchen wie sie hatten auf dem Jugendamt nichts verloren.
Während Hannah immer weiter und weiter ging, suchte sie in ihrem Kopf nach vernünftigen und vor allem triftigen Gründen, weshalb sie von zu Hause weggelaufen war. Scheiße, ihr fiel nichts ein!
Ihr Vater, stellvertretender Schuldirektor am Gymnasium, war ein angesehener Mann und die Leute liebten ihn geradezu. Erst im letzten Jahr war er vom Bürgermeister für seine Verdienste im Bereich der Freizeitpädagogik ausgezeichnet worden.
Und ihre Mutter? Sie arbeitete seit einiger Zeit wohl wieder in ihrem Beruf als Heimerzieherin.
Nur vage erinnerte sich Hannah an die Zeit vor ihrem fünfzehnten Lebensjahr. Nein, eigentlich konnte sie sich an diese Zeit überhaupt nicht erinnern.
Sie erinnerte sich nicht an eine Mutter, die zu Hause auf die Kinder wartete, die aus der Schule heimkamen und ein warmes Mittagessen bekamen. Sie erinnerte sich lediglich an eine Frau, die ihr fremd erschien, mit der sie nichts anfangen konnte und die behauptete, ihre Mutter zu sein.
Hannah zuckte die Achseln. Was bedeutete das schon? Mutter?
Mit ihrem Vater, da war es schon anders. Manchmal nahm er sie am Wochenende in seinem Mercedes mit an einen See, weit weg von zu Hause. Ein wunderschöner See mit tiefblauem Wasser mitten in einem Naturschutzgebiet, wo er eine Jagdhütte besaß.
Aber er jagte dort nicht.
Ein leises Weinen irgendwo in ihrem Innern ließ Hannah zusammenzucken und stumm wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht, die heiß über ihre Wangen liefen, ohne dass sie sich traurig fühlte. Nur ein wenig beklommen, aber weshalb konnte sie nicht sagen.
Sie liebte den See und sie liebte es, dort mit ihrem Vater stundenlang am Ufer zu sitzen und zu angeln. Dann erfüllte es sie manchmal plötzlich mit Stolz, dem stellvertretenden Schuldirektor ihres Gymnasiums so nah zu sein. So nah, dass sie ihn in der Nacht sogar schnarchen hören konnte.
Also, fasste Hannah ihre Gedanken entschlossen zusammen. Was? Was hätte ich dem Jugendamt sagen sollen? Die stumme Frage hallte endlos in ihrem Kopf wider, und verwirrt hielt sie im Laufen inne.
Ja, es hatte so etwas wie einen Termin beim Jugendamt gegeben. Hannah dachte mit tiefer Scham an ihren Besuch dort zurück. Wie peinlich es ihr gewesen war, als sie plötzlich nicht mehr sagen konnte, weshalb sie eigentlich gekommen war. Und die Frau vom Jugendamt war offensichtlich vollkommen verwirrt gewesen. Sie hatte tausend Fragen gestellt, auf die Hannah keine Antwort wusste.
Kurz nach ihrem 15. Geburtstag musste das gewesen sein. Also ungefähr vor einem halben Jahr. Sie wusste es nicht mehr genau.
Sie ertappte sich immer wieder dabei, wie sie versuchte, Ereignisse zeitlich zuzuordnen. Es versetzte sie in Panik, wenn sie das Gefühl bekam, den Überblick über die Zeit zu verlieren. Sie verbrachte manchmal Stunden damit, mühsam zusammenzusetzen, was wann in ihrem Alltag geschehen war, und sie fühlte sich erst wieder sicher, wenn es ihr gelungen war, einen Tag zeitlich ohne Lücken zu rekonstruieren.
Manchmal, wenn jemand so etwas sagte wie: »Meine Güte, die Zeit ist ja wieder wie im Flug vergangen«, fühlte sie sich für einen Moment erleichtert. Offensichtlich kannten auch andere Menschen dieses Phänomen mit der Zeit, die manchmal verschwunden ist. Einfach so. Und wenn es andere auch kannten, dann war mit ihr vielleicht doch alles in Ordnung?
Ja, jedenfalls war er kurz nach ihrem 15. Geburtstag gewesen, dieser Besuch beim Jugendamt, an den sie sich nicht wirklich erinnern konnte. Nur an dieses peinliche Ende, wo sie am liebsten im Erdboden versunken wäre.
Aber ihr Tagebuch erzählte mehr davon, was beim Jugendamt Thema gewesen war. Sie hatte es eingesteckt, gestern Morgen, zu dem anderen Fluchtgepäck. Ein komisches Tagebuch. Beim Lesen übersprang sie oft ganze Seiten. So auch jene Seiten, die angefangen hatten mit: »Heute Nachmittag war ich beim Jugendamt …«
In diesem Tagebuch gab es so viele Sätze, mit denen Hannah nichts anfangen konnte. In einer steilen, nach links geneigten schmalen Schrift, die ihr fremd erschien, die sie aber auch aus ihren Deutschaufsätzen kannte. Und in anderen Schriften, manchmal sogar in anderen Farben. Bunt und verwirrend insgesamt. Hannah wollte nicht darüber nachdenken. Nein, lieber nicht.
Nun ja, sann sie. Die anderen in der Klasse hatten wahrscheinlich Recht. Sie war anders. Seltsam. Leicht bis mittelschwer durchgeknallt. Verhaltensgestört, wie ihr Onkel meinte, der Kinder- und Jugendtherapeut war und so was dann ja wohl beurteilen konnte.
Und obwohl Hannah eigentlich nichts mehr von ihrem Besuch beim Jugendamt wusste, war sie sich sicher gewesen, dort nichts erzählt zu haben. Was auch? Es gab ja wohl nichts, was einer Dame vom Jugendamt irgendwie gefährlich vorkommen konnte.
Und dann war die Dame vom Jugendamt zu einem Hausbesuch gekommen, weil sie den Bericht der Jugendlichen besorgniserregend gefunden hatte, wie sie sagte. Hannah wäre damals erneut am liebsten im Erdboden verschwunden.
Zwei Wochen war das jetzt her. Zwei Wochen, die ihr erschienen waren wie eine Ewigkeit. Während sie weitergrübelte, nahm sie ihren Weg durch die Straßen der Stadt wieder auf.
»Ja, ja, meine Tochter hatte schon immer ein bisschen zu viel Phantasie. Sie will etwas Besonderes sein und ständig im Mittelpunkt stehen. Ihr Onkel schenkt ihr, glaube ich, einfach zu viele Kriminalgeschichten.«
Die Frau vom Jugendamt hörte geduldig zu. Weder sie noch ihre Mutter schienen die Anwesenheit der Tochter überhaupt zu bemerken. Auch wenn die Frau vom Jugendamt ab und zu verwunderte Blicke in ihre Richtung warf.
Aber Hannah blieb stumm wie ein Fisch. Ja, genau so fühlte sie sich. Wie ein Fisch hinter einem dicken Panzerglas, der nicht sprechen kann und den sowieso niemand hören könnte, selbst wenn er Worte finden sollte. Das Wasser war viel zu tief …
»Hannelore, würdest du Frau Krebs und mir noch einen Kaffe kochen«, wandte sich die Mutter an sie, die jetzt wohl die wohlerzogene Tochter spielen sollte. Daran sollte es nicht scheitern! Sie war sofort aus dem Wohnzimmer und in die Küche gestürzt.
Eine ihr völlig unvertraute Wut hatte sie plötzlich gepackt und sie versuchte erschrocken, sich wieder in den Griff zu bekommen. Stattdessen verbrühte sie sich beim Kaffeekochen die rechte Hand.
Die Mutter sah es, als sie eine viertel Stunde später den Kaffee in die kleinen goldumrandeten Kaffeetassen goss, und zeigte der Frau vom Jugendamt die Verbrennung. »Da sehen Sie selbst. Meine Tochter fügt sich alle ihre Wunden selbst zu. Sie ist einfach ungeschickt und sie wollte schon immer von zu Hause weg.«
Dann sah die Mutter Hannah an. »Nicht wahr, Hannelore? Dein Elternhaus ist dir nicht gut genug. Du denkst, du hast was Besseres verdient. Aber glaube mir, du kannst froh sein, keine Eltern zu haben, die dich schlagen und zu Hause einsperren. Was man da heutzutage alles in der Zeitung liest. – Möchten Sie noch einen Kaffee?«, fragte die Mutter freundlich und wandte sich wieder der Frau vom Jugendamt zu.
»Ach, nein danke«, antwortete die Frau, und zu Hannah gewandt: »Ich habe gehört, du hast