Hannah und die Anderen. Adriana Stern
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»Wieso, sind deine Eltern gemein zu dir gewesen?«
»Ich finde«, sagte Janne, »für die Aufnahme im Mädchenhaus hätte es auf jeden Fall gereicht.«
Hannah hatte mehr als interessiert zugehört. Wer weiß, Janne schien nicht zu den Erwachsenen zu gehören, die Mädchen sowieso nicht ernst nahmen. Vielleicht konnte sie ihr sogar weiterhelfen.
»Was muss denn zu Hause passiert sein, um ins Mädchenhaus zu kommen?« Hannahs Herz klopfte wild. Sie hoffte sehr, dass ihre Frage zwar nach Interesse, aber gleichzeitig wie beiläufig klang.
Janne überlegte einen Moment, als müsste sie nach den richtigen Worten erst suchen. »Also«, sie zögerte, »Mädchen, die zu Hause geschlagen werden, können ins Mädchenhaus gehen. Auch, wenn Mädchen einfach Angst vor ihren Eltern haben und das nicht so richtig erklären können. Wenn die Eltern den Mädchen ständig alles verbieten und sie sich nie mit ihren Freundinnen und Freunden treffen dürfen oder nie raus dürfen am Wochenende in die Disco oder ins Jugendheim. Wenn sie zu Hause ständig oder überhaupt bestraft werden.«
»Und«, fragte Hannah, »wie beweisen die Mädchen das dann?«
»Also beweisen«, überlegte Janne, »beweisen müssen sie das nicht. Ist doch klar, dass kein Mädchen ohne Grund von zu Hause wegläuft. Nur Mädchen, denen es schlecht geht, kommen überhaupt auf die Idee, ins Mädchenhaus zu gehen.«
Janne sah Hannah an. »Du kannst ruhig deine nassen Klamotten ausziehen und da drüben über die Heizung hängen. Ich glaube, vom Frauenflohmarkt letzte Woche steht da drüben noch eine große Kleiderkiste. Vielleicht passt dir ja was davon.«
Hannah sah Janne überrascht an. »Du brauchst überhaupt nicht zu denken, mit mir wär irgendwie was. Ich hab bloß grade keine Lust, nach Hause zu gehen. Sonst nix.«
»Ist okay«, sagte Janne. »Ich dachte nur, vielleicht schmeckt dir der Kaffee besser, wenn du was Trockenes anhast. Die Sachen liegen hier eh nur rum. Die gehören niemandem mehr. Sind auch ein paar Sachen von mir dabei. Die Hosen wären dir vielleicht einen Tick zu groß, aber sonst – ich bin nicht viel größer als du. Und ich würde mich freuen, wenn dir was davon gefällt.«
»Wieso?«, wollte Hannah wissen.
»Ich mag dich irgendwie. Ich glaube deswegen«, sagte Janne. Hannah musterte sie mit zweifelndem Blick und Janne schien es zu bemerken, denn sie fügte hinzu: »Ich finde es einfach gut, was du mich alles fragst. Es gefällt mir, wenn Mädchen ihren eigenen Kopf haben. Und genau so kommst du mir vor.«
Janne sah auf, als eine Frau den Laden betrat. Fast entschuldigend sagte sie: »Meine Pause ist offensichtlich zu Ende. Du kannst einfach hier bleiben und dich umgucken, solange du willst. Dir noch Kaffee kochen. Und wie gesagt, die Kleiderkiste steht rechts in der kleinen Küche in der Ecke.«
Janne begrüßte die Frau und setzte sich hinter den Ladentisch. Sie schien Hannah nicht mehr weiter zu beachten. Das war Hannah nur recht.
Sie ging in die Küche, die einen gelben Boden hatte. Irgendjemand hatte Wellen in bestimmt zwanzig verschiedenen Blautönen an die Wände gemalt. Hannah gefiel die Küche. Sie setzte neues Kaffeewasser auf und suchte die Kleiderkiste.
»Wow!« Anerkennend pfiff sie durch die Zähne. »Das sind ja tolle Klamotten.«
Sie fand vier Jeans, die ihr einigermaßen passten und die tolle Farben hatten. Sie suchte sich mehrere T-Shirts und drei Sweatshirts aus. In einen bordeauxroten Nicki verliebte sie sich sofort, und sie beschloss, einen blauschwarz gestreiften Pullover, den Nicki und eine grünschwarz gestreifte Jeans gleich anzuziehen.
»Du, Janne, habt ihr vielleicht zufällig auch eine Dusche?«
»Ja, zufällig ist eine Dusche im kleinen Bad neben der Küche. Brauchst du sonst noch irgendwas?«
Hannah schüttelte den Kopf, trug die neuen Anziehsachen wie einen Schatz ins Bad und duschte fast eine halbe Stunde lang heiß. Sie fand Shampoo und Duschgel und mehrere große, warme, bunte Frottehandtücher, und ihre Laune besserte sich mit jeder Minute, die sie in dem Laden verbrachte. Die neuen Sachen passten ihr eigentlich ganz gut.
Gut, dass Janne so klein ist, dachte sie und verteilte ihre nassen Sachen auf den verschiedenen Heizkörpern im Laden. Ihre kurzen Haare trockneten schnell. Hannah hatte plötzlich das Gefühl, unendlich viel Zeit zu haben. Sie setzte den Wasserkocher erneut auf, weil das Wasser für den Kaffee mittlerweile nur noch lauwarm war, sang, ohne es zu merken, eine Melodie vor sich hin und bot Janne schließlich einen frisch aufgebrühten Kaffee an.
»Die Sachen stehen dir echt gut«, sagte Janne bewundernd. »Ich mach übrigens in einer halben Stunde den Laden zu.« Prüfend sah sie Hannah an. »Wenn du willst, kannst du deine Sachen über Nacht hier lassen. Morgen sind sie bestimmt trocken, dann kannst du sie wieder abholen.«
Hannah erschrak. Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht. Dass der Laden schließen könnte. Dass Janne bestimmt was Besseres zu tun hatte, als sich den Rest ihres Lebens mit ihr zu unterhalten.
Scheiße, was mach ich denn jetzt?, überlegte sie fieberhaft. Hannah war den Tränen nah, schluckte sie aber verbissen hinunter. Mir wird schon was einfallen, und fast trotzig sah sie Janne an.
Janne beobachtete Hannah und räusperte sich. »Du, darf ich dich mal was fragen?«
Hannah ließ sich nicht anmerken, ob sie damit einverstanden war. Sie fühlte sich in absoluter Hochspannung und unmittelbar bedroht. Als sie Janne nur schweigend anstarrte, fuhr Janne fort.
»Ich habe den Eindruck, als wäre es vielleicht eine gute Idee, im Mädchenhaus anzurufen. Wenn du das willst, dann kannst du das Telefon da vorne benutzen. Du kannst auch mein Handy haben und in der Küche telefonieren, wenn du lieber deine Ruhe haben willst.«
»Wieso soll ich da anrufen?«, fragte Hannah und fühlte sich elend. Ihre Panik stieg.
»Ich dachte, falls du nicht weißt wohin, wäre das vielleicht ein guter Ort.« Janne sah sie unsicher an. »Ich … es war nur so ein Gefühl. Als ob du im Moment keinen Ort hättest, wo du hinkannst.« Und weil Hannah immer noch nicht reagierte, fügte sie hinzu: »Ich kann mich ja auch irren.«
Hannah hörte wieder diesen Knall. Und spürte den Sargdeckel, der sich über ihr schloss.
Jemand sprang auf. Jemand, der nicht mehr Hannah war. Jemand, der ziemlich wütend war. Nur wütend und sonst gar nichts. Ihre Augen funkelten.
»Ach, was wissen Sie denn schon«, schrie sie. »Was soll ich denen denn erzählen? Meinen Sie vielleicht, mir glaubt jemand auch nur ein einziges Wort? Mir hat noch nie irgendjemand irgendwas geglaubt. Und Sie, Sie wollen mich doch auch bloß so schnell wie möglich wieder loswerden. Ich … ich kann denen nix erzählen. Ich … ich weiß einfach nichts … Ich kann nicht so tolle Worte machen wie Sie. Ich …«
Dezember brach ab. Wieso stand sie in diesem komischen Zimmer einer wildfremden Frau gegenüber? Was war jetzt bloß wieder passiert? Und wieso fragte die sie aus? War das etwa wieder so eine vom Jugendamt? Sie zitterte. In ihrer Wut hatte sie einen Stuhl umgerissen, der direkt hinter ihr stand. Tränen rannen ihr die Wangen hinunter, sie schmeckten salzig. Mit den Augen suchte sie die Tür. Ihr fiel ein, dass sie bestimmt eine Jacke getragen hatte und dass die noch irgendwo sein musste. Scheiße. Und so was wie einen Rucksack oder eine Tasche hatten sie normalerweise