Pias Labyrinth. Adriana Stern
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Pias Labyrinth - Adriana Stern страница 5
»Ja, natürlich. Du hast doch gar nichts getan.« Jetzt sieht der Direktor sie doch an. »Geh heute mit, Pia, und morgen sehen wir uns wieder. Versprochen.« Er lächelt sogar, und Pias Herz beruhigt sich langsam.
Die Ärztin stellt fest, worüber Pia niemals sprechen wollte. Nur einmal hat sie versucht, es ihrer Mutter zu sagen. Doch als sie anfing zu weinen und den Finger auf ihre Lippen legte, schwieg Pia. Der Schmerz in ihren Augen war zu entsetzlich. Die Mutter wollte es nicht wissen.
»Dein Vater, er hat dir Gewalt angetan.« Die Stimme der Ärztin klingt bestürzt und ein bisschen wütend.
»Nein«, stammelt Pia. »Das ist nicht so schlimm. Wirklich. Papa soll nicht gehen.«
»Er muss gehen. So etwas darf ein Vater nicht tun.« Die Augen der Ärztin sind gütig.
Pia weiß nicht, was sie sagen soll. »Ich habe das niemandem erzählt«, flüstert sie plötzlich, und eine dicke Träne fällt auf ihre Jeans.
»Ich weiß«, antwortet die Ärztin, »du hast es nicht erzählt. Aber zwei andere Mädchen haben ihren Eltern erzählt, dass dein Vater auch ihnen Gewalt angetan hat. Die Eltern der beiden haben deinen Vater angezeigt.«
»Welche Mädchen?«, fragt Pia, obwohl sie die Antwort schon weiß.
»Lotte Andrews und Sophia Berg …« Pia rast einen Abgrund hinunter. Es wird schwarz um sie und sie stürzt, stürzt, stürzt.
Pia wird krank. Die Mathematikarbeit schreibt sie nie zu Ende. Drei Wochen liegt sie zu Hause im Bett. Nur Schweigen um sie, Schweigen und bleischwere Leere. Die Mutter sitzt manchmal stumm bei ihr. Der Vater darf bis zum Prozess zu Hause bleiben. Pia sieht ihn nicht, aber sie hört ihn mit der Mutter reden. Manchmal hört sie die beiden auch nachts. Dann stopft sie schnell ihre Kopfhörer in beide Ohren und hört laut Musik. Dieter, ihr kleiner Bruder, fängt plötzlich an zu stottern und wieder ins Bett zu pinkeln. Dabei ist er schon neun!
Frau Geritz vom Jugendamt kommt vorbei. Pia geht es noch immer nicht besser. Die Frau spricht lange mit Mama. Und am Abend hat Mama verweinte Augen. Stumm streichelt sie Pias Arm. Immer wieder. »Piaken, et tut mir so Leid. Ach, Piaken.« Das ist alles, was die Mutter sagt.
Als Frau Geritz das zweite Mal kommt, packt Mama Pias Sachen in einen großen Koffer. Warum? Ihr geht es doch seit einer Woche viel besser! Sie ist auch wieder zur Schule gegangen. Ein bisschen hat sich alles angefühlt wie in einem Traum. Sie fühlt sich befangen in der neuen Klasse. Die Verhaftung des Vaters hat in der Zeitung gestanden. Alle wissen es jetzt, und Pia kommt sich dreckig vor. Sie schämt sich entsetzlich. Sie findet keine Freunde in der Klasse. Auch mit Lotte und Sophia kann sie nicht mehr sprechen. Ein unüberwindbarer Graben liegt zwischen ihnen. Immer, wenn ihre Klassenkameraden die Köpfe zusammenstecken, reden sie bestimmt über sie. Pia fühlt sich nackt. Niemand spricht mit ihr über das, was in der Zeitung steht. Sie hat das Gefühl, alle behandeln sie, als hätte sie eine ansteckende Krankheit.
Nicht der Vater ist ins Gefängnis gekommen. Sie ist es, die eingemauert wurde an dem Tag, an dem der Direx sie aus ihrem neuen Klassenzimmer holte.
»Pia, dat Fräulein vom Jugendamt, dat bringt dich jetzt in ein schönet neuet Zimmer«, sagt die Mutter. »Dat is nich für immer«, fügt sie beschwörend hinzu, als Pia sich entsetzt unter dem Tisch versteckt wie vor vielen, vielen Jahren, wenn sich die Eltern gestritten haben.
»Mama, ich habe doch gar nichts getan.« Pia weint.
»Nein, Kind, natürlich nich.« Die Mutter sieht hilflos aus.
»Piaken, mein Kleinet, et is ja vielleicht nich für lang, aber glaub et mir. Dat is besser im Moment. Und du besuchst uns, ja, mein Kleinet?« Wieder sieht die Mutter sie so an wie damals, als Pia versuchte, ihr zu sagen, was der Vater mit ihr tat.
Pia krabbelt unter dem Tisch hervor. Nicht dieser Schmerz. Nein, nicht dieser Schmerz. »Ist ja gut, Mama«, sagt sie leise und streicht der Mutter über die Hand. »Ich hab dich lieb, Mama.«
Die Mutter nimmt Pia in die Arme. »Ich liebe dich, Kleinet«, sagt sie.
»Ich weiß, Mama, ich weiß.«
Im Keller ist es totenstill. Pia sieht unsicher von Andrea, die sich neben sie gesetzt hat, zu Nesè und zurück.
Nesè wischt sich eine Träne aus den Augenwinkeln. »Scheiße«, murmelt sie.
Pia spürt erst jetzt, dass Andrea den Arm um sie gelegt hat und vorsichtig ihren Rücken streichelt.
»Danke für dein Vertrauen«, sagt Andrea.
Gut, dass sie es den beiden erzählt hat. Nur was hat sie eigentlich gesagt? Sie räuspert sich, und Andreas Hand auf ihrem Rücken verharrt in der Bewegung.
»Das ist komisch gewesen mit dem Erzählen«, sagt Pia und ihre Stimme krächzt.
»Was meinst du mit komisch?«, fragt Andrea.
»Es ist schwer zu erklären. Es fühlt sich an wie … wie ein Sprung zurück in meine Geschichte. Ein Zeitsprung sozusagen. Diese Zeit«, fährt sie plötzlich atemlos fort, »kommt zurück, als würde alles noch einmal geschehen, genau so wie es vor über fünf Jahren war.«
Andrea nippt an ihrem Glas. »Stimmt, jetzt wo du es sagt, fällt es mir auch auf. Ich habe die Szenen, die du beschrieben hast, ganz deutlich vor mir gesehen.«
»Ging mir genauso.« Nesè wischt sich noch einmal über die Augen. »Es dauert vielleicht, bis du mal redest. Aber wenn du es dann tust, geht es einem verdammt nah«.
»Jetzt reden wir von etwas anderem, ja? Sonst platz ich vor Verlegenheit«, bittet Pia.
»Unser Zusammenwohnen ist übrigens megaklasse, erwähnte ich das schon?«, wechselt Andrea sofort das Thema.
»Nee, tatest du nicht«, grinst Nesè. »Dann seid ihr wohl jetzt ein Liebespaar?«
Pia fährt erschrocken hoch.
»Aua.« Andrea hält sich das Kinn. »Ich hätte mir fast die Zunge abgebissen.« Tränen schießen ihr in die Augen.
»Oh, Mann, Andrea, entschuldige.« Wütend funkelt Pia Nesè an, doch die grinst weiter. »Freut dich wohl«, faucht sie und versteht selbst nicht, wieso sie so auf Nesès Provokation abfährt.
»Bleib cool«, meint Nesè. »Es gibt Schlimmeres als sich in ein Mädchen zu verlieben.«
Pia kneift die Augen zusammen. »Was soll das denn heißen?«
»Dass du manchmal ganz schön impulsiv bist, zum Beispiel.«
Pia wirft mit einer Salzstange nach ihr. Ihr Ärger ist genauso plötzlich verflogen, wie er aufgeflammt war.
»Klar sind wir ein Liebespaar«, schmunzelt Andrea. »So wie die Mädchen aus der Regenstraße.«
»Die Mädchen aus der Regenstraße sind andersrum?« Wieso wissen immer alle Bescheid, nur sie nicht? Pia rutscht unruhig auf der Couch hin und her. »Nun sag doch mal«, bohrt sie. »Woher weißt du das?«
»Erstens bin ich mit Hannelies befreundet, und die wohnt ja da, und zweitens hab ich Augen im Kopf.«