Dantes Inferno I. Akron Frey
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«Es sei denn, du ließest dich bedingungslos in dein unbewußtes schwarzes inneres Loch hineinfallen, in das Zentrum des Flecks», erwiderte die Stimme und machte wieder eine kleine Pause, um diese abschließende Botschaft gewissermaßen in mich einsinken zu lassen: «In deinen Ängsten drückt sich eigentlich nur die Tatsache aus, daß du das moralische Weltbild, die Werte gesellschaftlicher Prägungen, noch immer soweit verinnerlicht hältst, daß du die Erkenntnisse deiner Sinnlosigkeit nicht als Befreiung von diesen anerzogenen Wertvorstellungen, sondern als unzulässige Abweichung von ihnen und damit als Schuld erfährst. Deshalb ist deine Depression auch nicht da draußen, sondern in dir selbst. Sie beruht auf einem Modell, das dir seit Kindesbeinen eingefüttert wurde. Und eine willentliche Veränderung dieser Perspektive bedeutet nicht darüber zu lamentieren, warum das Leben für dich keinen Sinn mehr hat, sondern zu merken, daß im Gegenteil alle dir eingetrichterten Modelle außerhalb ihrer gesellschaftlichen Zielrichtung sinnlos sind. Der Wille zur Genesung kann also nicht bedeuten, den Lebenssinn zurückzuholen, sondern ihn für immer zu verlassen.»
«Wie?» entschlüpfte mir die Frage, denn irgendwie ahnte ich schon, daß diese Verhinderungen nur dazu da waren, erkannt zu werden, denn das innere Erkennen aller Zusammenhänge schien mir die einzige Möglichkeit, die Bedingungen der Leiden kennenzulernen und damit die Voraussetzungen zu ihrer Beseitigung zu schaffen. Die Frage war nur: Wie? Wie sollte das geschehen?
«Zum Beispiel, indem du aus dem Fenster springst!» orgelte es in meinem Inneren.
Meine innere Stimme wollte mich wohl veralbern: «Hast du keinen originelleren Ratschlag für mich?» fragte ich.
«Der Sturz ist die Auflösung des Ich, von dem aus es sich verlierend durch Selbstbetrachtung wieder zurückgewinnen kann. Erst wenn dein Verstand an den Grundlagen des rationalen Weltbilds zerschellt», erwiderte die Stimme, «werden alle deine unterdrückten Persönlichkeitsanteile aus den Umklammerungen des unterdrückenden Denkens wieder frei und du kannst alles sein, was du sein möchtest. Vieles ist in dir, du brauchst es nur zu wollen. Geh jetzt zum Fenster!»
«Ich bin nicht so verrückt, wie du mich darstellst», gab ich zu bedenken, während ich mich erhob und zögernd zum Fenster ging. Der ganze Himmel war von rotem Abendglanz durchglüht. Es hatte am Vormittag und am Nachmittag die meiste Zeit geregnet, erst gegen Abend teilten sich die Wolken, und die Sonne schien ins Zimmer. «Wahrscheinlich habe ich nur einen Sinnfindungs-Komplex. Im Grunde bin ich ein schüchterner kleiner Junge, der nie richtig erwachsen geworden ist», erklärte ich, «und darum beständig naseweis über seine eigenen Bilder hinauswachsen möchte, die er pausenlos produziert und sie im gleichen Atemzug wieder in Frage stellt, um sich vor seinen eigenen Zweifeln zu schützen …»
Plötzlich züngelte vor meinen Augen ein Blitz, und was dann geschah, erlebte ich wie einen «Trip». Hätte mir jemand eine LSD-Droge verabreicht, so hätte die Erfahrung nicht phantastischer sein können. Ich starrte durch das Fenster in die Sonne, und von einer Sekunde zur anderen entzündete sich mit ungeheurer Kraft ein Feuerwerk von Visionen in meinem Kopf. Es war, als ob die mir bekannte Realität plötzlich dünn wie Seidenpapier geworden wäre, denn inmitten der Flammen sah ich ein seltsames Gesicht aufleuchten, als hätten sich sämtliche Poren seiner Haut in Licht verwandelt. Es strahlte eine weiße Licht-Aura aus und zog mich an. Ich spürte, wie meine Wirbelsäule in rasende Schwingungen geriet. Irgendwie fühlte ich mich plötzlich in zwei Teile gespalten, denn ich spürte, wie ich an meinem Arbeitsplatz saß und die Ideen in die Tasten hämmerte, die mir durch den Kopf blitzten, und gleichzeitig hatte ich das Gefühl, als ob ich es selbst war, der die Geschichte erlebte und aus dem Fenster fiel. Ich erkannte deutlich die luziden Wände meiner Geschichte als Spiegelrahmen einer mir unsichtbaren Welt, in der ich einem Engel begegnete, irgendwo zwischen Himmel und Erde. Sanft faßte er mich an der Hand und sprach: «Was weißt du von der Wirklichkeit, die dich umgibt?» Eine himmlische Gestalt in einem dunkelblauen Mantel stand vor mir und blickte mich unter ihrer Kapuze freundlich an. Die funkelnden Augen leuchteten in ihrem rötlichen Glanz aus der Tiefe der Finsternis hervor und ließen mich am ganzen Körper erzittern.
«Genug, um in der Welt überleben zu können», stammelte ich sichtlich aufgeregt.
«Das ist nicht genug, denn du bist hier nicht in der Zeit, die sich durch den Raum bewegt, sondern du bist der Raum, der durch sich selbst stürzt, weil er sich vor sich selbst verschließt. Ich bin der Schlüssel, der dich öffnet und der dir Zugang zur Wahrnehmung ungeahnter Perspektiven verschafft. Denn du bist die Tür, die dir als Eingang dient, die aber nicht nur an einem einzigen Punkt im Universum existiert, sondern die in verschiedene Bewußtseinsebenen hineingekrümmt ist … Gemeinsam können wir alle Ebenen durchwachsen. Schau hin!»
Und aus der Sonne brach ein glänzender Lichtstrom hervor und fiel über mein Pult auf Baphomets «The Light of Hell», eine alte apokryphe Schrift, die in meinem Bücherregal neben anderen kostbaren, gebundenen Manuskripten stand, die ich aber noch nie eines persönlichen Augenscheines gewürdigt hatte. Als ich gebannt hinsah, hatte ich das merkwürdige Gefühl, daß sich plötzlich ein kleines Auge auf dem mächtigen Rücken des magischen Wälzers abzeichnete und mir einladend zublinzelte. Blitzschnell erhob ich mich, mehr von der Aussicht beflügelt, etwas verpassen zu können, das bis jetzt nur in meiner Phantasie bestand, als vom Wunsch angetrieben, mich in neue Abenteuer zu stürzen. Ich zog das Buch aus dem Regal und schlug es auf, und da verfing sich mein Blick auch sofort in der flammenden Widmung, die über dem inneren Buchdeckel prangte: «Das Licht der Erkenntnis leuchtet aus dem Vorhof der Hölle.» Dann schlug ich die erste Seite auf, auf der in tiefschwarzen Lettern geschrieben stand: «Es stehen viele Geschichten in den geheimnisvollen Zauberbüchern, den schwarzen, unergründlichen Apokryphen der Hölle. Sie berichten von Dingen und Geschehnissen, die sich in der Tiefe der Erde ereignen, in der Finsternis der Nacht, aber nirgends, o Wanderer, findet sich die Geschichte der Seelen, die den Seufzern der Leere lauschen, dem Räuspern des Nichts, und die in der Einsamkeit schaudern und vergeblich einen Ausweg aus dem Schreckensgewölbe ihrer Träume suchen. Sie sühnen in den Verstrickungen ihrer Bilder, den Gefängnissen der Sehnsüchte und sind sich dabei ihrer Strafe bewußt, obwohl sie versuchen, sie aus ihrem Gedächtnis zu tilgen: Aber sie müssen durch die Hölle hindurch, auch wenn sie nicht wissen, was am anderen Ende ist. Aber, so wahr ich hier stehe, mein Freund, es ist Licht!»
Ich ließ das Buch sinken. Durch das einfallende Licht der Sonne wurde mein Blick von einer seltsamen Einrichtung auf der Rückseite des Regals angezogen, und plötzlich wurde ich eines Porträts gewahr, das in einer Nische eingelassen war, und zwar so, daß man nur einen Einblick bekam, wenn man einen der schwarzen Riesenbände aus dem Regal herausnahm. Es mußte sich um ein Ahnenporträt handeln, auch wenn es mir seltsam vorkam, daß es so versteckt hinter den geheimnisvollen Büchern und nicht wie die anderen Bilder im Familienalbum eingeklebt war. Der Glanz der Abendsonne brachte das Bild dabei wunderbar zum Ausdruck. Es stellte einen Mann unter einer mächtigen Kapuze dar, dessen Gesicht verdeckt im Schatten lag, nur die roten Augen funkelten hervor. Das Gesicht war mir sehr vertraut, und irgendwie schienen mir auch seine Augen zu antworten, denn einen Moment hatte ich das seltsame Gefühl, als blinzelten sie mich an: «Erst wenn dein Verstand an den Grundlagen des rationalen Weltbilds zerschellt», vernahm ich meine innere Stimme, «werden all deine unterdrückten Persönlichkeitsanteile