GegenStandpunkt 3-16. Группа авторов
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу GegenStandpunkt 3-16 - Группа авторов страница 11
In sozialer Hinsicht steht also alles zum Besten: Die Bürger werden mit ihren mannigfaltigen Sorgen und Nöten nicht allein gelassen, der Wirtschaft geht es den Umständen entsprechend bestens, und der Staat schafft es, sich zu seiner vollsten Zufriedenheit mit den Mitteln auszustatten, die er für seine Anliegen braucht. Was will man mehr?! In diesem schönen Land gibt es keine offenen ‚sozialen Fragen‘.
© 2016 GegenStandpunkt Verlag
Chronik (1)
Gedenken an Armenien, Verdun, Hiroshima, Russlandfeldzug –
das Abschlachten ausschlachten
Staaten kommen seit jeher in ihren Auseinandersetzungen mit einer gewissen Regelmäßigkeit nicht umhin, ihre Völker gegeneinander in den Krieg zu schicken. Gelegentlich werden diese Großtaten staatlicher Gewalt zum Gegenstand des Erinnerns und Gedenkens. In diesem Frühsommer gibt es binnen weniger Wochen gleich vier solcher Jubiläen: Armenier-Massaker und -Vertreibungen, die Schlacht von Verdun, die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki, der Russlandfeldzug der deutschen Wehrmacht. Die entsprechenden offiziellen Feierlichkeiten und publizistischen Würdigungen folgen bis zu einem gewissen Punkt einem stets gleichen Schema, das – bezogen auf die historischen Ereignisse – seltsam unsachlich anmutet.
Die Subjekte der jeweiligen Gemetzel waren eindeutig und ausschließlich die politischen Hoheiten über die aufeinander gehetzten Völker bzw. Volksteile; im Mittelpunkt der historischen Gedenktage stehen freilich ganz die menschlichen Opfer. Schwarzweißfotografien von hungernden Armeniern, Feldpostbriefe von der Westfront und Bilder sterblicher Überreste dort gefallener Soldaten, persönliche Erinnerungen von Überlebenden des Atombombenabwurfs an den Überlebenskampf ab dem „day after“, eine Gedenkstunde des Bundestags für die Leichenberge, die der Nazi-Angriff auf die Sowjetunion produzierte – das sind die zielstrebig eingesetzten Mittel dafür, das Publikum auf sein (mit-)menschliches Gefühl anzusprechen und damit auf die Perspektive der menschlichen Betroffenheit zu verpflichten. So werden die politisch kalkulierten und gewollten Gewaltorgien staatlicher Souveräne zu ganz und gar menschlichen Schreckensereignissen. Dabei bleibt es aber nicht.
Denn mit der Verpflichtung auf die Perspektive der menschlichen Opfer werden diese nicht nur betrauert, sondern zum Gegenstand höchster Ehrung. Wo sie im Krieg, als wirkliche Menschen, nur die Betroffenen ihrer elenden Rolle als Befehlsempfänger des Kriegswillens der eigenen Obrigkeit und Zielscheibe des entgegengesetzten Willens der gegnerischen Führung waren, wird ihnen im Zuge des ‚ehrenden Angedenkens‘ das Privileg zuteil, dass man sich ‚vor ihnen verneigt‘ und ‚von ihnen mahnen‘ lässt. Die geschundenen Kreaturen von damals werden posthum in den moralischen Adelsstand ideeller Ratgeber für ‚uns Heutige‘ bzw. ‚unsere Zukunft‘ erhoben, deren ‚Lektionen zu folgen wir ihnen schulden‘, womit ihr übles Schicksal nachträglich einen höheren Sinn erhält.
Und darin liegt der praktische Sinn dieser Übung, die nur einerseits unsachlich, andererseits aber sehr zielführend ist – für die politischen Subjekte nämlich, die nicht nur dann und wann Kriege führen, sondern es sich eben auch angelegen sein lassen, den von ihren Amtsvorgängern produzierten Opfern zu beliebigen späteren Zeitpunkten immer genau das abzulauschen, was sie als den tieferen Sinn ihrer aktuell praktizierten Politik betrachtet haben wollen. Wie frei die politischen Herren über Krieg und Kriegsgedenken dabei sind – das beweisen die jüngsten Jubiläen ganz folgerichtig schon allein dadurch, wie unterschiedlich die ‚Lehren‘ sind, die alle jeweils aus dem Angedenken an die folgen sollen, die doch ziemlich gleichförmig immer nur das eine waren – eben Opfer der gewalttätigen Machenschaften ihrer und fremder Staaten.
1. Gedenken an die Massakrierung und Vertreibung der Armenier
Am 2. Juni – über 100 Jahre nach den Massakern und Massenvertreibungen, die im Zuge der Staatsgründung der modernen Türkei durch das damals noch osmanische Militär an den Armeniern verübt wurden – „verneigt sich“ der Deutsche Bundestag „vor den Opfern der Massaker“ (Resolution), was in diesem Fall heißt, diesen Exzess staatsgründerischer Gewalt „endlich als das zu benennen, was es war: ein Völkermord“ (Gysi). Mit der Inkriminierung der Gewaltaktionen als Verbrechen – die höchste Kategorie von Schuldspruch, die das Völkerrecht kennt – wird der Blick von den Opfern zurück auf die Täter gelenkt, was für alle ganz selbstverständlich damit einhergeht, dass der Blick von den wirklichen Tätern – dem osmanischen Militär – weiterwandert auf die heutige Türkei, die moralisch in die Verantwortung für das Verbrechen gestellt wird.
Die Spezialität der deutschen Tour, der Türkei den Völkermord an den Armeniern zur Last zu legen, besteht darin, dies wie einen guten Rat unter befreundeten Tätervölkern zu präsentieren:
„Wir müssen immer wieder darauf hinweisen, dass es die Türkei nicht schwächt, sondern stärker macht, wenn sie sich zu diesem dunklen Kapitel der osmanischen Geschichte bekennt. Das eröffnet viele Chancen.“ (Özdemir)
So redet einer, der es wissen muss. Tatsächlich hat ja Deutschland eine einzigartige Meisterschaft darin erreicht, sich mit dem offensiven Bekenntnis zu seinen „dunklen Kapiteln“ (Resolution) in die Rolle des Richters über die eigenen Schandtaten zu begeben. Fremde Richtsprüche braucht sich Deutschland damit schon einmal nicht bieten zu lassen; und zugleich beansprucht es mit der Richterrolle in eigener Sache die unbezweifelbare Kompetenz zur moralischen Begutachtung aller anderen Mitglieder der ziemlich gewaltbereiten und gewalttätigen Staatenfamilie. So legt Özdemir mit seiner Beteuerung, dass es nicht darum gehe, dass „wir uns in fremde Angelegenheiten einmischen wollen, sondern ... eben auch um ein Stück deutscher Geschichte“, Wert darauf, dass den Deutschen niemand die Rolle als zumindest Mit-Täter streitig macht, der Reue zeigt und darum zur Begutachtung der Haupttäter berechtigt und verpflichtet ist:
„Dass wir in der Vergangenheit Komplizen dieses furchtbaren Verbrechens geworden sind, darf nicht heißen, dass wir heute zu Komplizen der Leugner werden.“
„Leugner“ – das ist das entscheidende Stichwort. Auf diesen Vorwurf zielt das ganze Gedenken; und der steht nicht für vergangene Schandtaten, sondern für – welche auch immer – politmoralische Defizite der heute in der Türkei Regierenden. Womit auch feststeht, dass die Pose des gutwilligen Ratgebers eine einzige Heuchelei ist. Wenn die deutschen Experten für historisch-moralische Selbstgerechtigkeit die Türkei dazu auffordern, sich zu ihren schlimmen Taten zu bekennen, dann nur deshalb, weil sie wissen, dass die Türkei genau dies nicht tun wird. Und diese verweigerte Bußfertigkeit lässt sich immer dann gegen die Türkei wenden, wenn es warum auch immer tagespolitisch in den Kram passt.
2. Gedenken an Verdun
Im Rahmen desselben Weltkrieges, zirka zeitgleich mit der antiarmenischen Gewaltorgie im westlichen Asien, fand im Westen Europas „eine der fürchterlichsten Schlachten“ statt, „die die Menschheit erlebt hat“ (Merkel) . Die 300 000 bei Verdun ums Leben Gekommenen sind jedoch der in diversen Veranstaltungen öffentlich zelebrierten Geschichtsauffassung heutiger europäischer Führer zufolge nicht einem Verbrechen, sondern einem gigantischen Missverständnis zum Opfer gefallen. Von Verbrechen kann nach dieser Auffassung schon darum keine Rede sein, weil nirgends ein Verbrecher auszumachen sein soll, waren doch alle „gleichermaßen Opfer“. Zur Untermauerung dieser Sichtweise besuchen französische und deutsche Politiker gemeinsam ein Beinhaus, in dem die Skelette von französischen und deutschen Soldaten liegen, die ja nun offensichtlich alle gleichermaßen tot sind.
Das ist der passende Hintergrund für die historischen Lehren, die Merkel dann auszubreiten hat. Die