Jeder des anderen Feind. Eike Bornemann

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Jeder des anderen Feind - Eike Bornemann

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einem dieser Wochenenden trat Milton in mein Leben.

      Ich wurde auf ihn aufmerksam durch die Art wie er schoss. Anders als ich, anders als die anderen, feuerte er stets Doppelschüsse ab. Und immer schoss er, sobald er die Waffe in Anschlag gebracht hatte. Es gab kein Zögern, kein langes Aufnehmen des Ziels. Peng-Peng, drang es, gedämpft durch den Gehörschutz, an mein Ohr. Und wieder: Peng-Peng.

      Er schoss gut. Er schoss besser als die meisten von uns. Manchmal verdächtigte ich ihn, er platzierte absichtlich einen Treffer daneben, um die übrigen Schützen, mich eingeschlossen, nicht all zu schlecht aussehen zu lassen.

      Im Vereinsraum setzte er sich so, dass er den Eingang und jeden, der kam oder ging, sofort im Auge hatte. Bei einem Kaffee kamen wir ins Gespräch.

      Er sagte Sätze wie diesen: »Die Menschen, die ihre Schwerter zu Pflugscharen schmiedeten, wurden umgebracht durch Menschen, die das nicht taten.«

      Es hätte pathetisch klingen können, doch Milton hatte nichts Pathetisches an sich. Seine Sätze fielen hart wie Knüppelhiebe. Sie trugen eine brutale Wahrheit in sich, die mir bis dahin entgangen war.

      In meinem ganzen Leben habe ich keinen Menschen getroffen, der einerseits so ruhig und bestimmt sprach und dessen Augen gleichzeitig immerfort in Bewegung waren. Ständig scannten sie die Umgebung, erfassten Dinge, die mir verborgen blieben. Nie habe ich erlebt, wie sein Blick verträumt in die Ferne ging. Er war wie ein Kundschafter, der sich im Land eines Feindes aufhält, neugierig und gleichzeitig wachsam.

      »Die Welt ist am Arsch, Outis«, behauptete er. »Aber das war sie schon immer. In dreieinhalb Jahrtausenden Menschheitsgeschichte herrschten 3250 Jahre Krieg und nur 250 Jahre Frieden.«

      Er lachte laut und unbekümmert. An einem entfernten Tisch begannen sich bereits Leute nach uns umzudrehen.

      Ich wollte von ihm wissen, ob er schon mal auf einen Menschen geschossen hatte.

      »Nein«, erwiderte er.

      »Aber du könntest es?«, hakte ich nach.

      »Ja«, sagte er, »es ist mehr eine Kopfsache als alles andere. Du musst den Schalter bei dir umlegen können, den Gegner in der Eskalation überholen, rücksichtsloser sein als er.«

      Seine grauen Augen sahen mich an und in mich hinein. Einen Augenblick später war der kalte Ausdruck verschwunden und er lächelte wieder warm und gewinnend. Irgendwann erzählte ich ihm von Maja. Er war interessiert, fragte mich geradezu aus: wie ich mich fühlte an dem Tag, als sie gefunden wurde, wollte die Einzelheiten des Obduktionsberichtes wissen, ob ich Fotos vom Tatort gesehen hatte und ob es ein Überwachungsvideo des Mordes gab. Kein anderer Mensch hatte mir zuvor solche Fragen gestellt. Er war nicht befangen wie die Anderen, wenn sie davon hörten und die einen danach behandelten, als ob man aus Glas wäre.

      Wir wurden Kameraden und später wurden wir Freunde. Seine unsentimentale Weltsicht faszinierte mich. Er zeigte mir, wie verwundbar ich über all die Jahre hinweg gewesen war. Nie wieder wollte ich dieser Mensch sein. Nie wieder sollte jemand, den ich liebte, sterben oder in Angst leben müssen.

      Milton war schlagfertig, selbstbewusst, unkompliziert, optimistisch und konzentriert bei allem, was er anpackte, sei es nun Joggen, Krafttraining, Kampfsport oder eben Schießen. Manchmal fragte ich mich, ob er vielleicht ein Zen-Anhänger war. Er schien selten über vier Wochen hinaus zu planen, lebte in der unmittelbaren Gegenwart.

      Milton war einer von der Sorte Mensch, den du dir nie alt, krank, verletzt oder als Opfer vorstellen kannst. Er war einfach nicht der Typ aus den Filmen, von dem du schon nach fünf Minuten weißt, dass er nur ein Statist ist, der die erste Viertelstunde nicht überlebt. Kurz gesagt: Milton war genau der Kerl, den du an deiner Seite wissen willst, wenn es Stress gibt.

      Obwohl er wenig von sich erzählte, hatte ich das Gefühl, ihn schon seit Ewigkeiten zu kennen. Später wurde mir klar, warum. Er erinnerte mich an den älteren Jungen aus der Straße, in der ich aufgewachsen war. Er zeigte mir all den Kram, auf den Jungen so abfahren. Wie man Karten spielt, schnitzt, Gürtel aus Stricken flechtet, das Taschenmesser so wirft, dass es mit der Spitze im Boden steckenbleibt und noch ’ne Menge anderes Zeug, was man prima fürs Leben gebrauchen konnte.

      Milton hatte mich nie zu sich nach Hause eingeladen. Ich wusste nicht mal, wo er wohnte. Von seiner Vergangenheit erzählte er nichts, und ich stellte ihm keine Fragen.

      Außer einmal. Ich fragte ihn, ob er Kinder hätte.

      »Kinder bedeuten Schwäche«, winkte er ab. »Du musst sie beschützen. Du musst deine Ressourcen mit ihnen teilen. Jemand könnte sie als Druckmittel gegen dich einsetzen. Wenn ein Kerl behauptet, erst Kinder hätten seinem Leben einen Sinn gegeben, dann tut er mir ernsthaft leid. Es muss ein trauriges Leben sein, wenn man sich von der Existenz eines Anderen abhängig macht.«

      Ich wollte ihm widersprechen. Wollte ihm sagen, die Jahre der Ehe, die Jahre mit meiner Tochter, wären die besten meines Lebens gewesen. Doch dann hatte ich wieder das Bild der verhüllten Gestalt auf der Trage vor meinen Augen und mein Brustkorb verengte sich schmerzhaft.

      Ich fragte ihn weiter aus, begierig in seine Welt einzudringen, die Welt der Bewaffneten, der Vorbereiteten. Ich abonnierte ein Prepper-Magazin, las Survival-Bücher und bunkerte Lebensmittel und Medikamente. In einer Ecke meines Kleiderschrankes stand fertig gepackt ein Notfallrucksack. Wenn ich nicht einschlafen konnte, zog ich ihn hervor und breitete meine Ausrüstung auf dem Boden aus: Kochgeschirr, Schlafsack, Notfallrationen, das Erste-Hilfe-Set. Ich schob die Dinge hin und her und zählte sie, wie andere Schäfchen zählen. Der Anblick beruhigte mich.

      Als ich die Sachkundeprüfung bestanden hatte und mein Schussbuch die erforderliche Zahl Termine aufwies, beantragte ich den Besitz einer eigenen Waffe. Die Produkte im Katalog trugen Namen, die sich wie die einer internationalen Klasse von Studenten anhörten: Beretta, Astra, Benelli, Heckler und Koch. Beim Bund hatten sie dagegen Buchstaben und Zahlen, wie Dinge aus einem Werkzeugkasten: AG36, P8, G36, MP-sonst was.

      Milton riet mir zu einer Glock, aber ich entschied mich letztlich für eine Walther P22. Die Waffe war leicht, zielgenau und ihre Anschaffung verschlang kein halbes Monatsgehalt. Zudem war die Munition vergleichsweise billig.

      »Kleinkaliber-Spielzeug«, urteilte Milton abfällig, »aber zum Üben reicht’s.«

      »Sie brauchen ein Hobby, Ablenkung!«, beschwor mich die Leiterin der Therapiegruppe, zu der ich jeden Freitagabend ging. »Sie müssen loslassen!«

      Ich nickte und dachte an die Walther, die zu Hause im Tresor auf mich wartete. Fast konnte ich ihr Gewicht spüren, wenn ich die Augen schloss und unter der Tischplatte meine Faust ballte.

      Ich ging nicht mehr zu den Gruppensitzungen. Stattdessen verbrachte ich jeden vierten Samstag auf dem Schießstand, die Knie leicht gekrümmt, die Füße fest auf dem Boden, die Waffe im beidhändigen Griff. Meine Welt bestand aus Kimme und Korn und dem schwarzen Maul des Ziels.

      Wenn ich hinterher nach Hause fuhr, fühlte ich mich seltsam leer, wie nach einem intensiven, berauschenden Erlebnis. Es war eine Leere, die mir gut tat. Es war, als ob das Dröhnen der Schüsse das Lärmen in meinem Kopf übertönt und zum Verstummen gebracht hätte.

      Als Penny früher von der Arbeit nach Hause kam, fand sie mich am Küchentisch sitzend, wie ich mit einem Lappen die auseinandergebauten Teile der Pistole abwischte. Die Patronen waren auf der Tischdecke aufgebaut, akkurat wie eine Kompanie Soldaten beim Fahnenappell.

      Schweigend

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