Jeder des anderen Feind. Eike Bornemann
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Danach verbrachte ich jedes Wochenende auf dem Schießstand.
An einem dieser Samstage drückte mir mein Freund eine Werbebroschüre der RSUKr – der Regionalen Sicherungs- und Unterstützungskräfte – in die Hand, und es war darin dieses eine Wort gewesen, Heimatschutz, was sich in meinem Kopf einbrannte.
Heimat. Es klang nach Frieden, nach Zuhause. Und ich sehnte mich nach männlicher Kameradschaft, nach ihrem Schutz, nach Härte. Meine Grundausbildung war mehr als zwanzig Jahre her. Ich verspürte das Gefühl, das ein Schüler hat, wenn er nachsitzen muss – ein wenig trotzig, ein wenig schuldbewusst, aber mit der Stimme der Erwachsenen im Ohr, dass man den Stoff fürs Leben brauchen wird und man was verpasst, wenn man’s nicht aufholt. Die Trainingsroutine, die strikte Disziplin und Unterordnung bewahrten mich davor, wahnsinnig zu werden. Jedenfalls redete ich mir das ein.
Ich absolvierte die vorgeschriebenen Lehrgänge, nahm an den Wettbewerben der Reservisten teil, verbesserte meine Pfadfinder-Skills und trainierte das Arbeiten im Team bei Personenkontrollen.
Und ich wartete.
Ich wartete …
Auf den Tag, an dem der Rest der Welt dort angekommen sein würde, wo ich in meiner Dunkelheit ausharrte.
Die größte menschliche Macht ist diejenige, welche aus der Macht sehr vieler Menschen zusammengesetzt ist. Thomas Hobbes, Leviathan
Erstes Kapitel
Montag, 23. Juli, Vormittag
»Morgen geht die Zeitung in Druck, oder es passiert was!«
Ich stand an der Tür der Redaktion und schaute fasziniert zu, wie es mein Chef immer wieder schaffte, den Raum zu durchqueren, ohne dabei über das Antennenkabel des Satellitentelefons zu stolpern, das sich zum Fenster schlängelte. Es war der dritte Tag des Blackouts.
Aus dem Telefonhörer drangen Gesprächsfetzen. Herold unterbrach sie. »Himmel, ich weiß, dass wir einen Notstand haben! Was meinen Sie, was hier erst los ist? Dagegen ist Ihr Kuh-Dorf eine Oase des Friedens. Deshalb brauchen wir dringend die Druckerei! Wir müssen … Hallo? – Ja, ich bin noch dran! – Also hören Sie zu: besorgen Sie sich ein Netzersatzgerät oder gehen Sie meinetwegen ins Heimatmuseum und beschlagnahmen Sie da eine Druckerpresse und … Hallo? Hallo?!«
Entweder hatte der Gesprächspartner aufgelegt oder die Verbindung war zusammengebrochen. Die GPS-Satelliten waren nicht die Einzigen, die in den letzten Tagen was abgekriegt hatten.
»Scheißkerl!«, fluchte mein Chefredakteur. »Scheißzeit! Scheißwelt!«
Für einen Moment sah es aus, als wollte er das Telefon auf den Tisch knallen. Doch dann schien er sich zu besinnen und legte den Apparat so vorsichtig ab, als wäre er aus Glas.
»Was gibt’s Neues?«, fragte er betont friedlich, indem er sich mir zuwandte. »Wieso bist du nicht im PIA?«
»Da war ich schon.«
»Ah. Und was sagen sie?«
»Dass die Serie von Sonneneruptionen zu zeitlich überlappenden Beeinflussungen des Erdmagnetfeldes geführt hat, die sich immer höher geschaukelt haben. Zitat Ende.«
»Das ist allgemein bekannt.« Herold wedelte ungeduldig mit der Hand. »Was sagen sie noch?«
»Dass der geomagnetische Sturm auf die Stärke G5 auf der NOAA-Skala raufgestuft worden ist. G5 bedeutet …«
»… extrem. Die höchste Stufe«, vollendete Herold den Satz.
Während der letzten Tage hatten wir ausreichend Gelegenheit gehabt, uns mit Astrophysik und Weltraumwetter zu befassen. Das Internet war hopsgegangen, die hauseigene Bibliothek gab auch nicht viel her, aber in den Fluren der Machtetagen trieben sich eine Menge Physiker auf dem Weg zu den Krisenstäben herum, die wir ausquetschen konnten. Die meisten von denen waren drollige Nerds, die sich halbwegs Mühe gaben, verständlich zu reden. Sie quatschten von Sonnenzyklen, Fleckengruppen, KMAs, rotierenden Feldern, Schockwellen, Messwerten und dergleichen. Ich verstand nicht mal die Hälfte.
»Erzähl mir irgendwas, was ich noch nicht weiß!«, forderte Herold unwirsch. »Na setz dich erst mal.« Er fuhr sich durch die talgigen Haare, bis sie wie elektrisiert vom Kopf abstanden. »Bist du mit dem Artikel fertig?«
Wortlos drückte ich ihm den Entwurf in die Hand und sah mich nach einer Sitzgelegenheit um. Das Büro gab die derzeitige allgemeine Lage im Land treffend wieder. Auf den Tischen und Stühlen lagen Papiere, Bücher und Broschüren verstreut. Unter den Tischen türmte sich Elektroschrott: Computer, Drucker, Telefone, Faxgerät, Flachbildschirme und eine verkalkte Kaffeemaschine, die wir längst ausmustern wollten. Auf dem Feldbett stand eine nagelneue Brennstoffzelle in Koffergröße, hinter deren Geheimnis wir allerdings noch nicht gekommen waren. Die Bedienungsanleitung lag aufgeschlagen darauf. Auf der Seite prangte ein Kaffeefleck.
Ich fegte ein benutztes Kochgeschirr, eine Blechtasse und eine Packung Entkeimer-Tabletten beiseite und schob meinen Hintern auf das schmale Fensterbrett.
Der Redaktionsraum lag in der Rheinhardstraße und damit so nahe am Olymp, wie es nur ging. Wenn ich den Hals reckte, konnte ich in der Schneise zwischen zwei Bürogebäuden ein Stück von der Kuppel der Bundestags-Kita sehen. »Die kleine Märchenkuppel« hatte ein launiger Stadtführer sie mal vor ein paar Jahren genannt. Das Gewölbe des Reichstages war für ihn »Die große Märchenkuppel«.
Unter dem Fenster verlief ein Viadukt der Eisenbahn. Tagsüber waren die blauen Sankt-Elms-Feuer auf den Oberleitungen nicht zu sehen. Nur der stechende Ozon-Geruch, der ab und zu aufkam, wenn der Wind richtig stand, erinnerte daran, dass über unseren Köpfen seit drei Tagen pausenlos unsichtbare geladene Teilchen auf die Atmosphäre einprasselten.
Herold räusperte sich. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder meinem Redakteur zu.
Zwischen seinen Brauen stand eine steile Falte. Die Lippen waren schmal wie ein Strich.
»Was soll der Mist hier?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Du meintest, ich soll was Motivierendes schreiben. Die Leute aufrütteln und so.«
»Aufrütteln, hmm …« Er sah mich über die Ränder seiner Brille hinweg an, rückte dann das Gestell zurecht und überflog das Blatt Papier vor sich.
»Hier steht was von Tarzan, der von Affen aufgezogen wurde, Robinson Crusoe, der es ganz alleine ohne Strom auf einer einsamen Insel geschafft hat und von Huckleberry Finn, der ein glücklicher kleiner Penner gewesen sei. Hmm … Dieser motivierende und aufrüttelnde Satz hier gefällt mir ganz besonders. Du schreibst, dass wir uns nicht so anstellen sollen, bloß weil wir plötzlich kein fließendes Wasser mehr haben und zum – ich zitiere wörtlich – Kacken in den Park müssten.«
Er sah auf. »Sag mal, willst du mich verarschen?«
»Wenn du willst, kann ich es in Defäkieren abändern, wenn es damit besser klingt.«
»Nichts klingt besser!«, knurrte er. »Legst du es auf deinen Rausschmiss an oder warum lieferst du mir diesen Dreck ab?«
»Lachen ist die beste Medizin«, versuchte ich