Jeder des anderen Feind. Eike Bornemann
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»Also wie eh und je.« Ich nickte. »Die Oberen bescheißen die Unteren.«
Ich stellte fest, wie mich Miltons Kaltschnäuzigkeit ansteckte. Flüchtig dachte ich, dies müsse das Geheimnis von archaischen Kriegerbünden sein, wo man gegenüber den Kameraden keine Schwäche zeigt. An Fantasie mangelte es mir nicht. Die Bilder, die Miltons Worte heraufbeschworen, tauchten lebhaft vor meinem inneren Auge auf: in der Dämmerung aufragende stockdunkle Wohntürme, in deren Fensterhöhlen vereinzelt Kerzen brannten; in den Klüften dazwischen Spielplätze, die sich langsam in Müllhalden verwandelten und verdorrte einstige Grünflächen, die wie ein gedüngtes Feld stanken.
Trotzdem – Seuchengefahr hin oder her, wäre es nicht besser, die Leute in ihrer gewohnten Umgebung zu lassen? Dort hatten sie wenigstens ein Dach über dem Kopf. Soziale Kontakte. Ich machte eine entsprechende Bemerkung.
Milton winkte ab. »Allein in der Gropiusstadt brauchen sie eine Million Liter Wasser pro Tag. Und das auch nur, wenn sie sparsam sind. Zwar gibt’s übers Stadtgebiet verteilt um die 2000 Straßenbrunnen, allerdings ist nur bei etwa einem Drittel die Wasserqualität ausreichend. Wie willst du da die Massen an Wasser und Lebensmitteln heranschaffen? Wie verteilen, ohne dass einer zu kurz kommt?«
»Nachbarschaftshilfe?«, schlug ich halbherzig vor.
Milton schnaufte verächtlich durch die Nase. »Das sind anonyme Bettenburgen, Outis. Glaubst du, da denkt irgendwer ans Teilen?«
Er schnippte mit dem Finger, um anzudeuten, wie wenig er in der Krise ans Teilen denken würde. »Die Leute stehen schon jetzt viele Stunden am Tag an den Versorgungspunkten und Straßenbrunnen Schlange.«
»Na dann haben sie ja jetzt genug Gelegenheit, sich kennenzulernen.«
»Witzbold.« Milton grinste. »In der Stadt ist für die Masse an Leuten kein Platz. Die haben schon genug Probleme, die ganzen gestrandeten Touristen unterzubringen. Es ist Sommer. Hochsaison. Die Notunterkünfte platzen aus allen Nähten.«
»Ob es überall so aussieht?«
»Da geh ich jede Wette ein. Was glaubst du, was erst in zwei Wochen los ist, wenn der halbe Ruhrpott abgesoffen ist?«
Ich schaute ihn fragend an. Er erklärte es mir. Wegen des Kohlebergbaus hatte sich der Boden in den letzten Jahrzehnten immer mehr abgesenkt. Ein Großteil der Städte lag inzwischen in Mulden, aus denen ständig das Niederschlagswasser abgepumpt werden musste.
»In nicht mal einem Monat haben sich Bottrop und Gladbeck in Vineta verwandelt«, prophezeite er. »Dann werden fünf Millionen auf Wanderschaft sein.«
»Zurück zu unseren Problemen hier«, forderte ich. »Was ist mit den Evakuierungen?«
»Nun, sie bauen im Brandenburger Umland Notquartiere auf. Überall da, wo sich Verkehrsknotenpunkte befinden: Autobahn, Wasserstraßen, Kleinstflugplätze …«
»Ich verstehe. Das vereinfacht den Transport, nicht wahr?«
»Vor allem vereinfacht es die spätere Versorgung.«
»Was hat das Wasser- und Schifffahrtsamt damit zu tun?«
Er sah mich mit dem Blick eines Lehrers an, der irritiert darüber ist, dass sein Schüler nicht mal die einfachsten Zusammenhänge kapiert.
»Allein in Gropiusstadt hausen 38 000 Leute. Das ist fast die Größenordnung von Pribjat. Als dort der Reaktor hochging, brauchten die Russen für die Evakuierung zwei Tage. Aber die hatten tausend Busse, über hundert LKWs und mehrere Sonderzüge. Die Straßen waren frei, das Schienennetz funktionierte und es gab ein sicheres Umland. Hier herrschen ganz andere Zustände. Die Schienen sind mit liegengebliebenen E-Zügen verstopft, die Stellwerke funktionieren nicht, die Weichen müssten über die gesamte Strecke festgeschraubt werden. Die Verkehrsleitsysteme sind ohne Strom, die Tunnel ohne Licht. Trotzdem wollen die das Ganze in drei Tagen durchziehen.«
»Drei Tage? Du lieber Himmel!«
»Du gestattest?« Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern bediente sich gleich von meinem Teller.
»Tja, Realitätssinn war noch nie die Stärke der Politik«, fuhr er kauend fort. »Die Köpfe in den Wolken, ohne das geht’s bei ihnen nicht. Aber Gedanken haben sie sich schon gemacht, das muss man ihnen lassen.«
Er wischte sich die Finger an der Serviette ab und griff wieder nach der Zigarette. »Wenn man die Kanäle dazu zählt,kommt man in Berlin auf zweihundert Kilometer Wasserstraßen. Durchgehend frei, man muss nur die Schleusen kontrollieren. Rechne nach: Hundertfünfzig Fahrgastschiffe, die rein rechnerisch knapp zehntausend Leute auf einen Schlag transportieren können. Was übrig bleibt, geht mit Bussen ab.«
»Und die Reedereien machen da freiwillig mit?«
»Sicherlich nicht aus schierer Menschenfreude. Aber sie kriegen Diesel für die Hilfe. Und später, wenn das große Aufräumen losgeht, winken großzügige Entschädigungen. Da wird man doch gern zum Patrioten.«
»Erzähl mir lieber, was das alles mit deinem Auftrag zu tun hat.«
Milton schnippte eine Aschenflocke in seine leere Tasse. »Tja, da gibt’s nicht viel zu sagen. Wir schippern auf einem der Flüsse zum Flugplatz und nehmen dabei eine Inspektorin vom Wasserstraßen-Amt mit. Wegen des Sonnensturms haben die wohl immer wieder Funkprobleme, also sagen sie sich: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.«
»Warum erledigt das nicht die Wasserschutzpolizei?«
»Vergiss es, das sind Oldtimer. Die Boote, die gerade nicht in der Werft liegen, sind seit Tagen ununterbrochen im Einsatz.«
Die Flamme seines Feuerzeugs züngelte, als er sich eine neue Zigarette ansteckte. In einer wirren Vision sah ich uns beide in einer Höhle vor einem Lagerfeuer hocken wie zwei Jäger eines urzeitlichen Stammes, der eine Treibjagd plant.
»Rechnet der Senat denn mit Problemen?«, wollte ich wissen. »Warum fährt diese Inspektorin nicht allein in ’nem Tretboot den Fluss runter? Das ist die brandenburgische Provinz, nicht das Herz der Finsternis.«
»Ist halt so ne fixe Idee von Windisch. Reine PR, wenn du mich fragst. Als wir allein waren, sagte er zu mir: Es liegt in unserem Interesse, im Angesicht der Krise unsere Daseinsberechtigung zu beweisen.«
Ja, dieser geschraubte Tonfall sah Windisch ähnlich. Der Auftrag klang nach langweiliger Routine. Aber gut, das sind Wach- und Sicherungseinsätze häufig.
Milton sprach weiter, aber ich hörte nicht mehr richtig zu. Meine Augen wanderten über seine schon grau werdenden Haare. Er hatte seinen Zenit überschritten. Wie ich. Wie die anderen Reservisten, denen ich auf den Lehrgängen begegnet war. Die meisten waren in einem Alter, wo man sich in seinem Leben mehr oder weniger eingerichtet hatte. Sie hatten Jobs, eine Familie, einen Alltag. Und doch musste ihrem Leben irgendwas fehlen. Vielleicht verspürten sie Langeweile angesichts des Trotts. Vielleicht fühlten sie, dass das,