Jeder des anderen Feind. Eike Bornemann
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Der Oberst von der zivil-militärischen Zusammenarbeit wollte eine Existenzberechtigung für seine Truppe, Herold einen Helden, wie ihn die Zeit gerade so nötig zu brauchen schien und Milton einen Auftrag, bei dem er Gelegenheit bekam, seine heiligen Werte des Kapitals zu schützen. Jeder suchte irgendetwas. Und jeder wollte im Grunde das Gleiche: Anerkennung.
Nun gut. Ich gab mir einen Ruck. Herold sollte seinen Helden bekommen. Ich würde den Job annehmen, von dem er geredet hatte. Ich würde Milton begleiten, Geschichten sammeln und über Helden schreiben. Vor allem aber würde ich endlich aus dem Mief rauskommen – ein bisschen herumreisen, ein bisschen Action erleben und alles gewürzt mit dem Salz des Pathos, des Gerechten und Wahren.
Am Ende bekam ich mehr von all dem, als gut für mich war.
Wenn er eine Reise macht, versieht er sich mit Waffen und sucht zu seinem Schutz eine sichere Begleitung. (…) Dabei weiß er doch, dass es Gesetze gibt und Männer, deren Pflicht es ist, ihn für jedes nur mögliche Unrecht mit Waffengewalt zu rächen. Thomas Hobbes, Leviathan
Zweites Kapitel
Dienstag, 24. Juli, Abend bis Morgendämmerung
An der Kreuzung vor uns eilten Tankwagen und die Fahrzeuge des THW, der Feuerwehr und der Energiekonzerne vorbei. Sie hatten Vorrang – noch vor der Polizei oder den zivilen Blechkisten mit aufgesetztem Blaulicht, mochten deren Fahrer hinter den Frontscheiben auch schimpfen und gestikulieren. Die Verkehrsposten ließen sich davon nicht beeindrucken; sie hatten ihre Befehle.
Es waren Bilder und Töne aus etwas, was wir noch eine Woche zuvor als Dritte-Welt-Land bezeichnet hätten. Eine allgegenwärtige Gereiztheit lag in der Luft, wie ein Sirren, das mir bis unter die Schädeldecke drang. Vielleicht waren es doch die Auswirkungen des Sonnensturms. Obwohl sämtliche Wissenschaftler behaupteten, dass dies unmöglich war. Aber auch Wissenschaftler können irren. Eigentlich gehört der Irrtum ja zu ihrem Handwerkszeug.
Als wir das Ende der Oberbaumbrücke erreicht hatten, stieß mich Milton an und deutete durch das Seitenfenster des Wagens. Auf den Gehwegen unter dem Brückengewölbe lagen dunkle Gestalten in Decken und Kokons aus Thermofolie gehüllt. Sie sahen aus wie Tote. Es mussten hunderte sein. Für einen Moment stockte mein Atem. Dann bemerkte ich, wie sich eine der Gestalten aufrichtete, erblickte Rucksäcke, Koffer, Taschen und Einkaufstüten. Ein Junge, ein Kind noch, starrte zu uns herüber und strich sich zähnefletschend mit dem Daumen über die Kehle. Obdachlose, dachte ich. Gestrandete. Milton hatte davon gesprochen.
Doch nicht das war es, was er mir zeigen wollte. Ich folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger weiter mit den Augen.
An einer Hauswand prangte Street-Art, einen Riesen mit weit aufgerissenem Mund darstellend. Das Bild wirkte grob, wie von einem Kind gemalt. Als wir näher ran waren, entpuppten sich die Pinselstriche als ein Gewimmel nackter Menschen. Das Maul des Riesen war eine schwarze Höhle, geformt aus sich aneinanderklammernden rosafarbenen Winzlingen. Eine einzelne Figur balancierte auf dem ausgestreckten Zeigefinger des Ungeheuers, augenscheinlich darum bemüht, nicht verschlungen zu werden.
Ich erinnerte mich, irgendwo was darüber gelesen zu haben, und kramte in meinem Gedächtnis, bis es mir wieder einfiel.
»Leviathan«, sprach ich leise vor mich hin.
»Was meinst du?«, fragte Milton.
»Das Gemälde«, erklärte ich, »es heißt Leviathan. Stammt von ›nem Künstler namens Blur.«
»Klingt nach ’nem Froschfresser«, brummte der Mann auf dem Platz am gegenüberliegenden Fenster, der mich an eine jüngere Ausgabe des Schauspielers Peter Lohmeyer erinnerte. Vor allem wegen seiner hemdsärmeligen Art und weil er beim Sprechen näselte. Auf seinem Brustschild hatte ich den Namen Scharon gesehen. Er schaute kurz auf und widmete sich dann wieder seiner Lektüre.
Was er las, ließ sich im Halbdunkel nicht ausmachen. Aber ich wäre jede Wette eingegangen, es war ein Heftroman. Einer von der Sorte, die angeblich authentische Soldatengeschichten versprach. Ich wollte meinen Augen nicht trauen, als er in der Kaserne einen ganzen Stapel davon aus seinem Spind in den Rucksack packte. Der Landser, Schicksale deutscher Schiffe, Fliegergeschichten – auf den Scheiß fuhr er völlig ab. Wenn man sah, was er sich alles an reaktionärem Nationalkitsch reinzog, hätte man meinen können, einen pubertierenden Sechzehnjährigen vor sich zu haben. Dabei verrieten die ausgeprägte Glatze und der graue Vollbart, dass er einer der Ältesten unter uns war.
Ich ließ meinen Blick über die anderen wandern. Im Fahrzeug war es so eng, dass sich unsere Knie berührten.
Aus der Spiegelung der Scheibe blickte mir Aslans hageres Raubvogelgesicht entgegen. Er war eine Sportskanone, durchtrainiert bis zur letzten Faser, dabei lang und schmal wie eine Pappel. Er lachte oft und gern. In seine Wangen hatten sich Grübchen gegraben. Seine Schlagfertigkeit imponierte mir. Zumal sein Humor nie bösartig war.
Neben ihm saß Kubiak. Ich kannte ihn erst seit wenigen Stunden, aber sein Ordnungsfimmel war mir sofort aufgefallen. Er hatte irgendeine Zwangsstörung, die ihn dazu trieb, Dinge symmetrisch auszurichten. Dieser Perfektionismus konnte einen zur Verzweiflung treiben, wenn er in der Kaserne minutenlang an irgendwelchen Falten an den Gardinen herumzupfte, bis sie exakt waagerecht hingen. Oder wenn seine Augen nervös über einen wanderten und sich an einem schräg sitzenden Koppel oder nicht perfekt ausgerichteten Kragen stießen. Darin war er schlimmer als jeder Kasernen-Spieß in meiner Grundausbildung.
»Ich frag mich bloß, wie der es schafft, über ’n Supermarktparkplatz zu laufen, ohne beim Anblick schief parkender Autos wahnsinnig zu werden«, hatte Aslan die Eigenheit des Kameraden kopfschüttelnd kommentiert.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder der Außenwelt zu. Das Bild des gefräßigen Riesen verfolgte mich, bis wir daran vorbei waren. Die Metapher war deutlich. Ich hatte vor Jahren Hobbes‹ Buch gelesen, in dem er die Gesellschaft mit einem Ungeheuer verglich, dem biblischen Leviathan, der von einem starken Staat gezähmt werden müsse. Es war der Alptraum eines jeden Liberalen, der aber in den letzten Jahren den Umfragen und Wahlergebnissen zufolge wieder zunehmend Akzeptanz gefunden hatte.
Ein paar hundert Meter weiter mussten wir wieder halten. Jemand klopfte an die Scheibe. Ein Schwall Luft, in dem Brandgeruch lag, drang in den Wagen, und ich hörte, wie jemand zum Fahrer sagte: »Ihr könnt nicht weiter. Da vorne ist Vollsperrung.«
Milton beugte sich vor. »Was ist passiert? Ein Unfall?«
»Stress«, sagte die Stimme. »Eine Tankstelle. Die kapieren einfach nicht, dass die Zapfsäulen keinen Strom haben. Die randalieren da schon seit Stunden. Arschlöcher!«
Die Tür wurde zugeschlagen.
»Was sagt das Navi?«, fragte Milton den Fahrer.
»Das Scheißding zeigt alles mögliche an, nur nicht wo genau wir sind. Die Satelliten haben wohl ne ordentliche Strahlendusche abgekriegt.«
»Scheiß drauf, der Osthafen muss in der Nähe sein«, sagte Milton. »Vielleicht ein Kilometer oder zwei. Zu Fuß sind wir schneller.«
Wir stiegen aus und formierten uns. Ich blickte auf, als ich das Rumoren von Hubschraubern hörte. Eine Staffel von fünf Helikoptern flog in der Dämmerung in einiger Höhe vorbei. Ich sah ihnen nach, bis mich Milton anstieß. »Penn nicht! Wir müssen los.«