Jeder des anderen Feind. Eike Bornemann

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Jeder des anderen Feind - Eike Bornemann

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Angesprochene schnaufte verächtlich. »Sind das etwa dieselben, die vor dem Blackout die Leute wegen Containern verklagt haben?«

      »Immerhin war’s das Schlauste, was sie machen konnten. Stunden später hätten die Leute ihnen eh die Schaufenster eingeschmissen.«

      »Ohne Kühlung wäre das Zeug sowieso vergammelt. – Und der Typ faselt was von Altruismus! Was wir jetzt dringend brauchen …«

      Was er und seine Agentur brauchten, bekam ich nicht mehr mit. In dem Moment, wo sie ihre Rationen ergattert hatten, zogen sie sich in Richtung der Tischreihen zurück. Ihr Geschnatter entfernte sich.

      Die Küchenkraft wirkte wie jemand, der schlafwandelt. Ich musste meine Bestellung zweimal wiederholen, ehe sie sich in Bewegung setzte und nach hinten schlurfte. Nach einer Ewigkeit konnte ich endlich ein königliches Bankett in Empfang nehmen, an dem Thilo Sarrazin seine Freude gehabt hätte, als er noch Berliner Finanzsenator war. Ein Teller Hühnersuppe, zwei belegte Brötchenhälften und einen Pappbecher mit heißem Wasser, in dem ein Teebeutel schwamm; dazu zwei Zuckerwürfel – die Standardration, die meinen Organismus bis zum Abend am Leben erhalten würde.

      Ich nahm mein Tablett und schaute mich nach einem Sitzplatz um. Mein Blick blieb an einer Uniform hängen, deren Besitzer abseits an der Fensterfront saß und mir lässig mit einer Hand zuwinkte. Ich musste zweimal hinschauen, ehe ich ihn erkannte.

      »Milton!«

      In den letzten Tagen fragte ich mich oft, wo er steckte und was er so trieb. Am ersten Tag des Blackouts hatte ich vergeblich versucht, ihn zu erreichen. Das Handynetz war völlig überlastet. Sechs Stunden später, als die letzten mit Notstrom betriebenen Basisstationen ihren Dienst quittiert hatten, war dann endgültig Schicht im Schacht.

      Milton gehörte zu den Menschen, die sich in einer Menge bewegen konnten, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Wäre ich jemals auf die Idee gekommen, ihn in eine Geschichte einzubauen, hätte ich ihm vermutlich die Rolle des Schnüfflers angedichtet.

      Nun allerdings wirkte er verändert. Nicht nur, dass er Uniform trug, auch seine Haltung war neu, gestraffter. Er erinnerte mich an eine Schlange, die sich gehäutet hatte. Seltsam, was eine Uniform aus einem Menschen macht.

      Er schob mir einen Stuhl zu. »Was treibst du so? Bist du immer noch bei der Feldzeitung?«

      »Immer noch.«

      »Ein Papiertiger«, lachte er.

      »Gibt Leute, die das wichtig finden.«

      Komisch, ich hatte das Gefühl, meine Arbeit verteidigen zu müssen, obwohl die mir im Grunde nichts mehr bedeutete. Ich war kein guter Journalist. Nicht mal jetzt brachte ich die Wahrheit raus. Aber war das nicht meine Aufgabe?

      »Was ist mit dir?«, fragte ich ihn. »Wie kommst du zurecht?«

      »Womit?«

      Ich breitete die Arme aus. »Na mit allem. Mit der Katastrophe.«

      »Katastrophe?« Milton hob eine Braue. »Junge, die Zerstörungen nach dem letzten Weltkrieg – das war eine Katastrophe! Das Land am Boden. Trotzdem ging’s irgendwann wieder aufwärts.«

      »Dank des Marshallplanes«, wandte ich ein, »weil die Amis eine Basis gegen den bösen Kommunismus brauchten.«

      »Und so wird’s auch diesmal sein«, erwiderte er unbekümmert. »Wir sind noch lange nicht am Ende der Welt angelangt.«

      »Was macht dich so sicher?«

      »Ich glaube an den Kapitalismus, mein Freund. Ein echt geniales System. Nicht totzukriegen, egal was passiert.« Er hob die Hände, die Handflächen nach oben wie ein Prediger. »Ich glaube an den Fleiß und den Optimismus, an Innovation, Kreativität, Mut und harte Arbeit, an die Gier, an Gewinn und Wachstum.«

      Milton war stockkonservativ. Gegen ihn war Potter Huntington ein Waisenknabe. Sein Hohelied auf den Kapitalismus hätte gut und gern als Leitartikel eines Wirtschaftsmagazins getaugt. Ich winkte ab, bevor er noch auf die Idee kam, mir irgendwas verkaufen zu wollen, eine Versicherung zum Beispiel. Milton war der Typ, der einem alles andrehen konnte. Sein Optimismus überrollte einen geradezu. Er erinnerte mich an den Frosch aus dieser altbackenen Geschichte, der erst in die Milch fällt und dann statt abzusaufen so lange strampelt, bis die Milch zu Sahne wird. Und wahrscheinlich würde er einem anschließend noch die Sahne verkaufen.

      »Erzähl mir lieber von deiner Aufgabe«, sagte ich.

      »Wir schützen Kasernen, Flugplätze, Rundfunksender, Lebensmittel- und Treibstoffdepots, Banken … So was halt. Weißt du, dass es in der ganzen Stadt nur fünf Tankstellen gibt, die mit Notstrom betrieben werden können?«

      Ich schüttelte den Kopf.

      »Tja, wusste ich bis heute auch nicht. Die werden gerade abgesichert wie ein Konsulat. Aber das machen Andere. Wir wurden für einen Flugplatz abgestellt. Auf den Weg dorthin sollen wir noch was erledigen.«

      Wieder spürte ich die alte Faszination, die mich schon bei unserer ersten Begegnung gepackt hatte. Die Katastrophe schien ihn nicht zu berühren. Mehr noch, anscheinend betrachtete er sie als Herausforderung. Herold … Milton … Der Regierungssprecher … In meiner Umgebung schienen sich eine ganze Menge Macher zu tummeln. Anderswo wurde Geschichte gemacht, während ich in der Etappe versauerte.

      Ich rückte den Pappbecher mit dem erkaltenden Tee auf dem Tisch hin und her. »Reden wir von deinem Einsatz. Was sollt ihr auf dem Weg zum Flugplatz erledigen? Oder ist das geheim?«

      »Ach wo«, winkte er ab. »Den alten Windisch kennst du noch?«

      »Oberst Windisch vom Landeskommando?«

      »Der ist jetzt bei der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit. Und redet immer noch dieselbe Sülze wie eh und je, von wegen wir Soldaten wären Mittler zwischen Armee und Gesellschaft. Die alte Leier. Du kennst ihn.«

      »Der Einsatz«, brachte ich ihn aufs Thema zurück.

      »Richtig. Also ich werd‹ zu einer Besprechung gebeten, und als ich reinkomme, sitzt da Windisch mit drei Zivilisten zusammen: eine Referatsleiterin von der IIIA, ein Typ vom Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt … Wozu der dritte da war, hab ich vergessen. Jedenfalls diskutieren die gerade die Evakuierungen der ersten Hochhaussiedlungen.«

      »Steht es schon so schlimm?«

      »Du warst wohl in den letzten Tagen nicht zu Hause?«, erkundigte er sich mit gutmütigem Spott.

      »Ich schlafe seit drei Tagen in der Redaktion.«

      »Dann lass mich dich mal kurz briefen. In den Hochhaussiedlungen herrscht gerade SHTF.«

      SHTF. Shit Hits The Fan. Die Kacke war am Dampfen. Fast so schlimm wie WC – Worst Case – aber nicht ganz so heftig wie EOTW – The End Of The World. Nerd-Sprache. Wenn sich Prepper unterhielten, war’s, als würdest du besoffen einer Folge von Raumschiff Enterprise folgen.

      »In dem Fall kannst du das ruhig wörtlich nehmen«, fuhr Milton fort. »Ohne Strom reicht der Wasserdruck nur bis zur dritten Etage. Alles darüber hat nicht mal mehr Wasser zum Spülen der Klos.«

      Er

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