Kreation Vollblut – das Rennpferd eroberte die Welt. Teil III. Erhard Heckmann
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Einige Tage nach dem letzten Bombenangriff auf Köln brachte ein amerikanischer Jeep die Oppenheims aus ihrem Versteck wieder nach Hause, wo viele Gebäude teils oder ganz zerstört oder abgebrannt, und die Pferde auf Befehl der SS abtransportiert waren. Viele hatten ihr Ziel nicht erreicht und waren verloren, andere fielen den Russen in die Hände. Auch Graf Sponeck wurde von der SS gezwungen, Pferde Richtung Bayern zu verfrachten, doch konnte im Artilleriefeuer wertvolles Material nicht gerettet werden. Ein anderer SS-Trupp landete südöstlich von München in Niederseeon (Steinsee) auf dem Hof von Olga von Wedelstadt, und diese tapfere Frau wurde zur Retterin der etwa 40 Schlenderhaner, darunter Allgäu, Magnat und Schwarzgold. Ihre kurze Radiobotschaft, die täglich gesendet wurde, vernahm Carl Friedrich von Oppenheim, und als am 22.6.1945 Graf Sponeck auf dem Hof eintraf, waren diese Schlenderhaner gerettet, denn am 9.5.1945 hatte Deutschland kapituliert. Im September des gleichen Jahres trafen sich einige Unverzagte, um über die wichtigsten Schritte zu beraten, um Zucht (1943 hatten von 1.283 Mutterstuten nur noch 454 überlebt) und Sport wieder in Gang zu bringen. Und als die treibenden Kräfte dieser Aktivisten der „ersten Stunde“ werden Walter Bresges, Ferdinand Leisten und Waldemar von Oppenheim benannt. Schließlich erteilten die Amerikaner am 22.4.1946 eine Sondergenehmigung, um in München den ersten Renntag im „neuen Deutschland“ starten zu können.
Sieht man einmal von Schwarzgold ab, die noch immer als Deutschlands beste Rennstute gilt und 1940 das Derby gewann, so waren die Jahre 1941 und 1942 bis dahin die Höhepunkte der deutschen Zucht, die mit zwei dreijährigen Hengsten der Sonderklasse glänzte. Zunächst war das der Asterus-Sohn Magnat, der 1941 den vierten Derbysieg in Folge für Schlenderhan komplettiert, und der nach Renn- und Zuchtleistungen zu den Größten der deutschen Zucht zählt. In der Zucht kam er, trotz sehr guter Leistungen, jedoch zu keinem Championat, denn er stand im Schatten seines Derbynachfolger Ticino, einem herausragendem Pferd der deutschen Vollblutzucht.
Die beiden Weltkriege beeinflussten die deutsche Vollblutzucht ganz erheblich, doch waren die Pferde nach dem ersten besser als zuvor, und Vollblüter wie Alchimist, Sturmvogel, Nereide, Ticino, Schwarzgold, Magnat und Athanasius vertraten wohl die beste Zeit des deutschen Rennsports und schlugen die Ausländer in den großen Rennen zu Baden-Baden, Hoppegarten oder München. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als K. H. Wielands Birkhahn 1948 nach dem ostdeutschen Derby zu Hoppegarten auch das zu Hamburg gewann, das erstmals wieder an seinem Stammplatz gelaufen wurde – die Ausnahmen waren 1919 Grunewald; 1943/44 Hoppegarten; 1946 München und ein Jahr später Köln, während es 1945 nicht gelaufen wurde – war nicht viel übriggeblieben, und das Nachkriegspferd reichte zunächst nicht an die Klasse der Pferde zwischen den beiden Kriegen heran.
1950 begann zwar der Siegeszug der Ticino-Kinder – Niederländer (1947), Neckar (1948), Muskatblüte (1948), Mangon (1949), Naxos (1950), Nizam (1950), Liebesmahl (1950), deren Vollschwester Liebeslied (1953), die, gemeinsam mit der Magnat-Tochter Thila (1954), als die besten Rennstuten der Nachkriegszeit gelten –, Lustige (1952) und Orsini (1954) – doch wanderten auch wieder viele der hochdotierten deutschen Rennen ins Ausland. Allein der Große Preis von Baden wurde zwischen 1958 und 1969, rechnet man den in Deutschland trainierten Engländer Luciano, der belgische Farben trug, hinzu, so war in diesen zwölf Jahren der Zoppenbroicher Kaiserstuhl 1962 das einzige deutsche Pferd, das dieses Rennen gewann, während elf Ausgaben über die Grenze gingen, ehe der von Heinz Jetzsch trainierte Schlenderhaner Derbysieger Alpenkönig 1970 das Blatt wieder wendete.
Die Antwort der Deutschen war damals zweifach: Offene Rennen reduzieren und die Zucht verbessern. 1978, als von 2.254 Rennen 415 für den jüngsten Jahrgang und 821 die Dreijährigen ansprachen, standen jener mehr als 80 Hengste und etwa 1.900 Stuten zur Verfügung, die Rennbahnen taten ihr Bestes, Preisgeld und Züchterprämien waren hoch und wurden von der Rennwettsteuer auf steigende Totoumsätze gezahlt. Blickt man auf die deutsche Zucht der Nachkriegszeit zurück, dann ist es wohl fair zu sagen, dass Bürgermeister (1944; Herold), Nebelwerfer (1944; Magnat) oder Birkhahn (1945; Alchimist) unter normalen Verhältnissen wahrscheinlich noch wesentlich mehr geleistet hätten, als so kurz nach dem Krieg. Und, wenn auch ein Vergleich der Jahrgänge schwierig ist, so ist sicher richtig, dass Pferde wie Niederländer (1947; Ticino), Neckar (1948; Ticino) und Mangon (1949; Gundomar) den internationalen Anschluss wieder herstellten, und anschließend Orsini (1954; Ticino) das Aushängeschild war.
Der Alchimistsohn Birkhahn mit seinem Besitzer Karl-Heinz Wieland und Trainer Fritz Reif auf der Heimatbahn in Leipzig (Foto: Siegfried Müller, Leipzig)
Als Vollblutzucht und Rennsport absolut global wurden und in Deutschland auch neue Gestüte entstanden waren, zeigte sich auch der deutsche Vollblüter, in der Zucht und auf der Rennbahn, international wieder konkurrenzfähig. Und zu ihnen gehörten Pferde wie der auf der Röttgener Dependance Baronrath in Irland aufgezogene Star Appeal, der als Fünfjähriger 1975 Eclipse Stakes und Arc de Triomphe gewann, die Ticino-Enkelin Sterna (Neckar) zur Mutter hatte und Zeitelhacker Farben trug; Athenagoras (1970; Nasram); Marduk (1971; Orsini); Windwurf (1972; Kaiseradler); Surumu (1974; Literat); Nebos (1976; Caro); Königsstuhl (1976 (Dschingis Khan); Orofino (1978; Dschingis Khan); Acatenango (1982; Surumu), Lomitas (1988; Niniski); Monsun (1990; Königsstuhl); Lando (1990; Acatenango); Borgia (1994; Acatenango); Silvano (1996; Lomitas); Paolini (1997; Lando); Boreal (1998; Java Gold); Shirocco (2001; Monsun); Manduro (2002; Monsun); Danedream (2008; Lomitas), die 2011 nach Star Appeal den zweiten „Arc de Triomphe“ für Deutschland gewann und sich zwölf Monate später auch in den „King George VI“ zu Ascot nicht schlagen ließ; Novellist (2009; Monsun), der ebenfalls zu Ascot siegte, oder der Melbourne Cup Sieger von 2014, Protectionist (2010; Monsun), die die deutsche Zucht besonders gut vertraten. Und auch in den letzten drei genannten Pferden, die inzwischen in ausländischem Besitz sind, pulsiert das Blut des großen Erlenhofers Ticino. Danedream erhielt über die Mutter ihres Vaters Lomitas, La Colorada, zwei Ströme: Deren Vater Surumu ist ein Literat-Sohn aus der Ticino-Enkelin Lis, und La Colorados Mutter, La Dorada, hat den Neckarsohn Kronzeuge zum Vater, während bei Novellist die Urgroßmutter Narola als Nebos-Tochter den weiteren Weg zu dessen Großmutter Naxos weist, die den Erlenhofers zum Vater hatte. In der fünften Ahnenreihe erscheint außerdem die aus der Ticinitochter Liebeslied gezogene Lis in beiden Pedigreehälften, und Neckar (Ticino) tritt in der oberen zusätzlich auf. Bei Protectionist verbinden die in der vierten Ahnenreihe stehenden Literat (doppelt) und Nebos.
Bei 12 dieser genannten 20 deutschen Spitzenpferde steht auch der von Tesio gezogene Italiener und Pharos-Sohn Nearco (1935) im Pedigree, der ein Riese unter Großen war und mit 14 Siegen ungeschlagen abtrat. In sechs Fällen ist es seine direkte Hengstlinie, wobei die Schaltstelle größtenteils sein Enkel, der Kanadier Northern Dancer, ist. Im Falle von Danedream (Prix de l’Arc de Triomphe; King George VI and Queen Elizabeth Stakes) und Novellist, der das Rennen zu Ascot ebenfalls gewann, ist Nearcos direkte Hengstlinie auf der väterlichen und der mütterlichen Seite vertreten. Bei den übrigen Vertretern kommt das Blut von Nearcos über die mütterlichen Seiten.