Wie Schneeflocken im Wind. Denise Hunter
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„Du schaust dir die Bücher an, und Mama denkt ein bisschen nach, okay?“
Sie waren noch etwa fünf Autostunden von Loon Lake entfernt, aber in so entlegenen Gegenden von Maine verkehrten keine Busse, und Taxis gab es auch nicht. Doch das war auch eigentlich egal, denn sie hatte ja ohnehin kein Geld, um die Fahrt zu bezahlen. Blieb also nur per Anhalter, und das konnte sie mit Micah zusammen nicht riskieren, selbst wenn es Autos gab, die in die Richtung fuhren – was sie bezweifelte. Besonders, da auch noch ein Unwetter angesagt war.
Das einzig Wertvolle, was sie noch besessen hatte – der Ring –, war schon verkauft. Sie schaute an sich hinunter auf ihre Designerjeans und den Kaschmirpulli, aber dafür würde sie secondhand nicht viel bekommen, und auch das Auto war nicht viel wert, selbst wenn es repariert war.
Sie würden also eine Weile hierbleiben müssen, eine andere Möglichkeit sah sie nicht. Sie musste sich vorübergehend einen Job suchen, und zwar so schnell wie möglich. Die Weihnachtszeit stand ja vor der Tür, und da würden in den Geschäften sicher Aushilfen gesucht. Wenn sie erklärte, dass ihr Ausweis gestohlen worden sei, dann hatte ja vielleicht jemand Erbarmen mit ihr. Sie hatte allerdings keine Ahnung, wohin mit Micah, wenn sie arbeitete. Vielleicht gab es ja einen Kindergarten, für den eine Assistentin gesucht wurde.
Aber ob das so kurz vor den Weihnachtsferien realistisch war?
Sie hatten kein Geld für Essen und auch keinen Platz zum Schlafen für diese Nacht, und dann war da ja auch noch der Umstand, dass es jemanden gab, der sie umbringen wollte.
Micah hatte die Bücher inzwischen wieder beiseitegelegt und ließ jetzt den Teddy auf seinem Schoß hopsen. Sie fragte sich, was wohl gerade in seinem Köpfchen vorging, und als sie ihm tief in seine braunen Augen schaute, entdeckte sie darin Sorge.
„Also … eine Planänderung“, sagte sie und versuchte, ihrer Stimme einen munteren Ton zu geben. „Es sieht so aus, als müssten wir eine Weile hierbleiben. Ist doch vielleicht sogar ganz nett, ein bisschen am Meer zu bleiben, oder?“
Sie wartete auf eine Reaktion – hoffte darauf –, und er blinzelte auch, aber die Sorge in seinem Blick blieb.
„Ich suche mir einen Job, und dann bleiben wir ein bisschen in dieser netten kleinen Stadt. Was hältst du davon?“
Sie würde mit der Jobsuche in dem kleinen Esslokal beginnen, und wenn sie dort niemanden einstellten, würde sie es in den Geschäften an der Hauptstraße versuchen. Micah würde sie mitnehmen müssen auf Jobsuche, was zwar nicht so schön war für alle Beteiligten, sich aber nun mal nicht ändern ließ. Wenigstens sah sie in der schicken Jeans und dem edlen Pulli einigermaßen vorzeigbar aus.
Und dann gab es da noch ein weiteres entscheidendes Detail, das sie als Erstes angehen musste. Sie rutschte auf dem kleinen Stuhl hin und her und sagte schließlich: „Erinnerst du dich noch an das Spiel, das wir gespielt haben? Dieses Spiel, in dem du Adam heißt und ich Andrea?“
Micah nickte, und seine Augen leuchteten auf.
„Ja, ich weiß, dass du gewonnen hast. Aber nur mit einem Punkt und nur, weil ich einen Moment nicht aufgepasst habe.“
Ein Lächeln umspielte seine Lippen.
„Du warst richtig gut in dem Spiel, und ich möchte auch gerne weiterspielen, aber ich finde, wir fangen noch mal von vorne an, ja?“
Er runzelte so heftig die Stirn, dass sich seine Augenbrauen beinah in der Mitte trafen.
Sie wuschelte ihm durchs Haar und lachte leise. „Keine Sorge, du behältst deinen Punkt Vorsprung, aber wir machen es jetzt noch ein bisschen schwieriger, ja? Wir nehmen noch einmal neue Namen, und dieses Mal darfst du dir deinen sogar selbst aussuchen.“
Erwartungsvoll sah sie ihn an. Eines Tages würde sie ihm eine Frage stellen, und er würde antworten. Aber nicht heute, denn er starrte sie nur mit seinem unergründlichen Blick an.
„Wie wäre es denn mit SpongeBob?“, fragte sie mit ernster Miene.
Micah legte die Stirn in noch tiefere Falten und sah verwirrt aus. „Nein? Dann vielleicht Pinoccio?“
„Ach ja, richtig, der hatte ja dieses Problem mit dem Lügen. Und außerdem eine lange Nase, also ganz anders als du.“ Sie zwickte ihm ganz leicht in die Nase und fuhr fort: „Na ja, bleiben immer noch Banana, Ebenezer oder Pooter.“
Jetzt leuchteten seine Augen, und zum ersten Mal, seit sie auf der Flucht waren, sah sie ihn lächeln. Und dann schüttelte er heftig den Kopf.
„Ach, Mensch“, sagte sie und sah ihn jetzt streng an. „Ich hab ja gar nicht gewusst, dass du so wählerisch bist. Dann kann das mit einem neuen Namen ja dauern.“ Sie dachte an die Kinderserie, die er sich immer anschaute, die mit dem klugen, liebenswerten Helden, der immer irgendwie in der Patsche saß oder irgendwelchen Ärger hatte.
„Also all die guten Namen, die ich schon vorgeschlagen habe, willst du ja nicht, aber es gibt doch bestimmt einen. Zum Beispiel, ach, ich weiß auch nicht … Jack?“
Jetzt nickte er begeistert.
„Der gefällt dir also? Na gut, dann heißt du Jack. Jack Bennet“, sagte sie und borgte sich den Nachnamen von ihrer Lieblingsheldin aus einem Roman von Jane Austen aus. Dann wuschelte sie ihm noch einmal durchs Haar und erklärte: „Ich glaube, du gibst einen guten Jack ab. Und weißt du was? Ich wollte schon immer Kate heißen, also heiße ich in dem Spiel jetzt so.“
Dann legte sie ihm den Zeigefinger unters Kinn, hob seinen Kopf ein wenig und sagte: „Aber für dich bin ich immer noch Mama, Mister.“
Ihr Lächeln verflog, als ihr bewusst wurde, dass er sie schon seit Monaten gar nicht mehr angesprochen hatte.
Aber bald. Bald werde ich meinen Jungen wiederhaben.
„Okay, also gehen wir noch mal die drei Regeln durch, nur für den Fall, dass du sie vielleicht vergessen hast: Erstens: Du musst immer sofort reagieren, wenn jemand dich Jack nennt, sonst wird dir ein Punkt abgezogen. Zweitens: Du darfst niemandem deinen richtigen Namen sagen, sonst wird dir ein Punkt abgezogen. Und drittens: Dieses Spiel ist ein Geheimnis nur zwischen dir und Mama, und wenn du irgendjemandem etwas davon sagst, dann hast du das ganze Spiel verloren.“
Lächelnd nickte er.
„Du glaubst, dass du mich schlagen kannst, nicht wahr?“
Sein Lächeln wurde intensiver.
„Na, das werden wir ja sehen, Mr. Jack.“
VIER
Eden zog Micah etwas weiter vom Straßenrand weg, als ein Lastwagen vorbeidonnerte. Zwar boten die Bäume am Straßenrand etwas Schutz vor dem eisigen Wind, aber sie hatte noch nie eine so brutale Kälte erlebt. Sie vermisste zwar sonst absolut nichts von ihrem alten Zuhause, hätte aber alles gegeben für einen warmen, sonnigen Südstaatentag. Ihre Sportschuhe